Der geliebte goldene Mittelweg

27. Februar 2021

 „In Gefahr und grosser Noth // Bringt der Mittel-Weg den Tod.“

(Friedrich von Logau)

 Die Älteren werden sich an den Film von Alexander Kluge und Edgar Reitz aus dem Jahr 1974 erinnern – In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. In der aktuellen Corona-Debatte wird neuerdings der Mittelweg propagiert. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) fordert diesen gefährlichen Mittelweg und verlangt von Bund und Ländern einen Stufenplan, um aus den Corona-Beschränkungen herauszukommen. Hätten die Landesfürstinnen  und Landesfürsten im November 2020 auf Angela Merkel gehört, wäre uns einiges erspart geblieben. Es ist eine, um es vorsichtig auszudrücken, Frechheit, wenn nun genau diese MP´s des goldenen Mittelwegs der Kanzlerin mangelnde Führungsschwäche vorwerfen.   Es steht zu befürchten, dass es mit der  gewohnte Diskussion um mögliche Lockerungen weitergeht, obwohl Epidemiologen und Mediziner eindringlich vor der dritten Welle warnen. Die Wirtschaftsverbände fordern hingegen Öffnungsperspektiven. Ist der Mittelweg der Landesfürstinnen und Landesfürsten tatsächlich ein goldener?

Der gewinnbringende Mittelweg

In der Politik wird dieser Mittelweg beschritten, der im politischen Spektrum zwischen „links“ und „rechts“ liegt.  Die Politik möchte die Mitte abgreifen, weil da die meisten Stimmen geholt werden. Sowohl CDU, SPD, FDP als auch, in abgemilderter Form, die Grünen umwerben gebetsmühlenartig die Mitte.

Dies setzt sich in der Ökonomie fort, weil die Unternehmen ebenfalls die Mitte, also die Mehrzahl der Konsumenten entdeckt hat. Hier lassen sich die Gewinne maximieren und Skaleneffekte erzielen. In der Ökonomie lässt sich die Skalierbarkeit besonders gut darstellen: Eine Unternehmung entwickelt einmal ein Wirtschaftsgut; dieses lässt sich dann zukünftig mit einem minimalen Aufwand reproduzieren. Dies ist bei der Entwicklung von Software besonders signifikant. Ist sie einmal entwickelt, dann lässt sie sich unendlich reproduzieren, ohne nennenswerten energetischen und arbeitsmäßigen Aufwand. Der Aufwand steckt also bei skalierbaren Gütern in der Entwicklung[1]. Dies wird für Unternehmen besonders interessant, wenn der Staat, also der Steuerzahler, diesen Aufwand übernimmt. Dieser Sachverhalt wurde vielen Bürgerinnen und Bürger in der Corona-Krise bewusst, als die Impfstoffe im öffentlichen Diskurs standen. Die Forschungs- und Entwicklungskosten sind für pharmazeutische Produkte besonders aufwendig. Die anschließende Massenproduktion des Produktes ist vergleichsweise günstig. Deshalb ist es die Vorstufe zum ökonomischen Paradies, wenn die Entwicklungskosten, beispielsweise für einen Impfstoff, von der Allgemeinheit getragen werden, die endlos sprudelnden Gewinne aber der Pharmaindustrie zugeschrieben werden. Wenn dann noch das unternehmerische Risiko auf die Allgemeinheit übertragen werden kann und die entsprechenden Patente sich im Privateigentum befinden, ist das Paradies für den Pharmakonzern vollendet. Da das Mittelfeld aber begrenzt ist und viele Anbieter leer ausgehen, gilt die neue (fragwürdige) ökonomische Erkenntnis: The Winner takes it all.

Schon Aristoteles plädierte für den Weg der goldenen Mitte. In seinem philosophischen Werk führte er aus, dass man zum Feigling wird, wenn man vor allem davonläuft. Wer allerdings auf alles losgeht und vor nichts Angst hat, der wird zu einem sinnlosen Draufgänger. Auch hier scheint der Mittelweg angebracht. Der Philosoph Arthur Schoppenhauer hat zu diesem Sachverhalt ein Aphorismus geschrieben, der sich auch ökonomisch deuten lässt und auf vorbildliches Verhalten schließen lässt:

„Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an einem kalten Wintertage, recht nahe zusammen, um, durch die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wenn nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes Übel, so dass sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung von einander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.“

Artur Schoppenhauer (1788 – 1860)

Neben der philosophischen Aussagekraft erklärt uns Schoppenhauer auch die ökonomische Bedeutung der Grenzrate der Substitution, den Tausch und die Opportunitätskosten. Die Opportunitätskosten der Wärme bestehen in den Schmerzen durch die Stachelberührung, die Schmerzfreiheit kostet den Wärmeverlust. Zwischen Wärme und Schmerzen gibt es viele Zwischenstufen. Sich anzunähern und die goldene Mitte zu finden, ist nicht nur in der Ökonomie eine Form der Höflichkeit und der guten Sitten.

Der gefährliche Mittelweg

Der goldene Mittelweg begleitet unser Leben und er wird auch von den meisten Menschen als positiv empfunden. Der Mittelweg mag in vielen Bereichen der Gesellschaft (Ökonomie, Politik, Gesetzgebung und Philosophie) als sinnvoll erachtet werden. Auch der deutsche Ethikrat will die goldene Mitte finden. Einerseits bekräftigt er in seinen Publikationen das „die Infektionskurve abgeflacht werden muss (flatten the curve)“[2] und andererseits stimmt er Lockerungen zu. Somit hat sich auch der Ethikrat auf die goldene Mitte eingeschworen.

Zum Schluss kommt aber die schlechte Nachricht, denn für die Pandemiebekämpfung taugt der Mittelweg nicht. Erst recht nicht, wenn man sich die aktuelle Infektionslage anschaut. Die Inzidenzen steigen und der R-Wert ist aktuell über eins[3]. Trotzdem werden Lockerungen in Aussicht gestellt. Dieser Mittelweg ist ein Kompromiss und er ist die denkbar schlechteste Entscheidung. Zumal die Schnelltests das Infektionsgeschehen nur sehr bedingt  beeinflussen können. Politikerinnen und Politiker sind aber auf die Mitte konditioniert, sie schätzen den goldenen Mittelweg und merken scheinbar nicht, dass das Virus sich nicht für Mittelwege, Kompromisse, Höflichkeiten und gute Sitten interessiert. Das Virus folgt einzig und allein der Evolution. Und die Evolution selbst ist vollkommen passiv und ein „absichtsloser Prozess“ (Richard David Precht). Leider müssen wir davon ausgehen, dass durch die aktuelle Politik sich das Virus noch besser verbreiten  und munter vor sich hin mutieren kann. Um dieses zu verhindern, muss die Inzidenz deutlich unter 50 gedrückt werden. Nach einer Studie von Karl Lauterbach und Dirk Brockmann würden die Probleme erheblich abnehmen, wenn die Lockerungen einige Wochen nach hinten verschoben werden.

[1] Man schaue beispielsweise auf die Homepage der DZIF (Deutsches Zentrum für Infektionsforschung): Im DZIF entwickeln über 500 Wissenschaftler und Ärzte aus 35 Institutionen gemeinsam neue Impfstoffe, Diagnostika und Medikamente. Zur Sicherstellung der Zusammenarbeit mit den Zuwendungsgebern steht dem Verein die Kommission der Zuwendungsgeber zur Seite. Zuwendungsgeber sind der Bund (90 %) und diejenigen Länder, die Sitz der DZIF-Standorte sind (10 %): Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein.

[2] Deutscher Ethikrat: Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, 2020

[3] Wenn er den Wert zwei erreichten würde, wären wir im absoluten exponentiellen Wachstum.

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