Der utopische Topos der Insel

13. Mai 2023

„Der nutzenoptimierende Homo oeconomicus ist keineswegs der „Naturzustand“ des Menschen, wie der Mainstream in der heutigen Ökonomie behauptet, sondern eine historische Deformation.“ (Fabian Scheidler)

Um den Kapitalismus und den Prozess der Kapitalbildung zu erklären, muss in vielen Lehrbüchern Robinson Crusoe herhalten. Folgendes Beispiel verdeutlicht diesen diskussionswürdigen Zusammenhang:

ROBINSON CRUSOE lebte, nachdem er Schiffbruch erlitten hatte, auf einer unbewohnten Insel. Um seinen Hunger zu stillen, fing er zunächst Fische mit der Hand. Dann kam er auf die Idee, ein Netz zu knüpfen. Um während dieser Zeit trotzdem seinen Hunger stillen zu können, boten sich ihm folgende Möglichkeiten:

 Er verwendete nur noch einen Teil der ihm täglich zur Verfügung stehenden Zeit für den Fischfang und knüpfte in der übrigen Zeit an dem geplanten Netz (Sachkapital). Dadurch verringerte sich die ihm täglich zur Verfügung stehende Menge an Fisch (= Konsumverzicht). Er verwendete zunächst weiterhin die ganze ihm täglich zur Verfügung stehende Zeit für den Fischfang. Statt aber alle gefangenen Fische zu verzehren, legte er einen Vorrat an Dörrfisch an (= Vorratsinvestition durch Konsumverzicht). Als der Vorrat groß genug war, stellte er das Fischen ganz ein und begann mit dem Knüpfen des Netzes (Sachkapital). In dieser Zeit lebte er vom Dörrfisch (= Abbau der Vorratsinvestitionen).

 In beiden Fällen hat ROBINSON zeitweise Konsumverzicht üben müssen, um das Netz herstellen zu können. Die Herstellung des Netzes stellt einen Produktionsumweg dar, da zunächst anstelle von Konsumgütern Sachkapital hergestellt wurde, das nach seiner Fertigstellung für die Herstellung von zusätzlichen Konsumgütern eingesetzt werden konnte. Durch den Einsatz des Netzes konnte ROBINSON das Fangergebnis bei gleicher Arbeitszeit erheblich steigern. Seine Arbeitsproduktivität erhöhte sich. Diese Investition, d.h. die Sachkapitalbildung in Form des Netzes, war aber nur möglich, weil er zunächst eine Zeit lang nicht seine volle Arbeitskraft dem Fischfang widmete und daher auf den möglichen Konsum zusätzlicher Fische verzichtete. ROBINSON musste also Konsumverzicht üben (=sparen), um Sachkapital bilden (=investieren) zu können.

(Quelle: Viktor Lüpertz, Volkswirtschaftslehre für das Berufliche Gymnasium, Braunschweig, 2014, S. 599)

Wenn man das liest, hat man den Eindruck, der Produktionsfaktor Kapital ist gottgegeben. Man könnte meinen, dass schon die Neandertaler Werkzeuge gebaut und damit Kapital geschaffen haben. Der Kapitalismus scheint ein Naturgesetz zu sein. Wir brauchen unser Wirtschaftssystem nicht zu kritisieren, es ist alternativlos. Man fragt sich, wie es die Lehrenden der Ökonomie es  schaffen, den Lernenden ein stolzes Selbstbild zu vermitteln und sie gleichzeitig von kritischen Fragestellungen fernzuhalten.

In vielen Blogs habe ich das Robinson-Beispiel kritisiert und aufgezeigt, dass der Kapitalismus anhand dieses Beispiels aus einem ökonomischen Schulbuch in die Irre führt. Ich möchte an dieser Stelle, in Anlehnung an Uwe Timm[1], noch einige Ergänzungen vornehmen. Außerdem möchte ich einen Bezug zum Originalbuch von Daniel Defoe aus dem Jahr 1719 herstellen.

Der erste Roman der Weltliteratur

Das Buch Robinson Crusoe durchläuft im Zeitraffer den Zivilisationsprozess. Robinson muss sich verschiedene Tätigkeiten selbst erarbeiten. Die Unterkunft muss gebaut werden, die Zubereitung von Gerichten und das Halten von Tieren muss erlernt werden. Schließlich muss er sich auch noch mit dem Ackerbau beschäftigen. Im Laufe der Geschichte trifft er auf wilde Kannibalen. »Aus diesem imaginären Schreckensbild leiteten die Europäer ihr moralisches Recht zur Kolonisation ab, also zur Unterdrückung und Ausbeutung indigener Völker. Robinson, der sich in der Einsamkeit und dank einer auf dem Schiffswrack gefundenen Bibel zu einem gottesfürchtigen Menschen wandelt, rettet einen »Wilden« vor dem Gefressenwerden und nennt ihn nach dem Tag ihrer Begegnung Freitag. Freitag wird missioniert und zivilisiert. Das erste englische Wort, das er lernt, ist master, erst dann folgen yes und no.«[2] Dies ist ein Abbild der Zivilisationsgeschichte der westlichen Welt. Es lässt erahnen, wie sich die kapitalistische Welt historisch entwickelt hat.

Nach der Darstellung des Schriftsteller Daniel Defoe handelt Robinson sehr entschlossen und er ergibt sich nicht seinem Schicksal. Die Schönheit der Natur wird in dem Buch kaum beschrieben, dafür wird der Ãœberlebenskampf dargestellt. Robinson handelt nicht emotional, sondern seine ökonomische Tatkraft führt dazu, Herrschaft über die Natur zu gewinnen. Diese verklärte, fiktive Erzählung erklärt die Zivilisationsgeschichte, sie hat mit der Realität der Kapitalakkumulation  kaum etwas zu tun. Daniel Defoe stellt Robinson als erfolgreichen Bezwinger seines Schicksals dar, der tatkräftig anpackt. Somit ist er kein Opfer, sondern einer, der sich die Natur  aneignet. Außerdem zivilisiert er den „wilden“ Freitag nach seinen Vorstellungen.  Nach meiner Ãœberzeugung ist die größte zivilisatorische Errungenschaft, dass man sich in die Sichtweise eines Konfliktgegners hineinversetzen kann. Wobei es keine Rolle spielt, ob der Konfliktgegner der „wilde“ Freitag, Putin, Bidden, Selenskyj, Scholz, Merz, Lindner, Trump oder auch Hitler heißt. Dies gilt ebenfalls auch für den Ehegatten, einem Freund, einer Freundin und auch für die  scheinbare „Konfliktgegnerin“  Natur, weil die menschliche Zivilisation hier den größten Raubbau aller Zeiten vornimmt.

Die Funktionsweise des Kapitalismus und der Zivilisation lässt sich mit dem Robinson-Narrativ nicht ausreichend  beschreiben, weil der zentrale Widerspruch des Kapitalismus keine Erwähnung findet. Der zentrale Widerspruch besteht darin, dass einerseits eine Ãœberproduktion von Gütern vorliegt und andererseits die natürlichen Ressourcen begrenzt sind. Die Geschichte der Ausbeutung indigener Völker ist jedoch bis in die heutige Zeit präsent. Der Unterschied zu früheren Zeiten besteht darin, dass heute weniger Gewalt angewendet wird. Stattdessen werden Handelsverträge geschlossen, die selten für die indigene Bevölkerung von Vorteil sind. Der Expansionszwang des Kapitals ist nach wie vor ungebrochen; er nimmt unaufhörlich zu. Deshalb operiert das Kapital über Grenzen hinweg, „um von internationalem Handel und der Ausbeutung unterworfener Völker zu profitieren.“[3]

Nancy Fraser macht auch noch auf einen zweiten Widerspruch aufmerksam, indem sie die nichtmenschliche  von der menschlichen Natur abgrenzt und damit verdeutlicht, dass ökologische Krisen im Kapitalismus eine inhärente Tendenz haben. Das Kapital vermeidet es, „auch nur annähernd die wahren Wiederbeschaffungskosten für die Inputs zu zahlen, die es der nichtmenschlichen Natur entnimmt, laugt es Böden aus, verschmutzt es die Meere, überflutet es Kohlenstoffsenken und überfordert des allgemein die Kohlenstoffspeicherkapazität des Planeten.“ [4]  Der natürliche Reichtum wird maximal geplündert und er wird weder ersetzt noch repariert. Die Folgen sind, dass die Natur übermäßig destabilisiert wird. Somit wird nicht nur die rassifizierte Bevölkerung fremder Länder enteignet,  sondern auch die Natur im Allgemeinen. Auch landet der Giftmüll der Industriestaaten in diesen „rassifizierten Zonen“ (Nancy Fraser).

[1] Vgl. Uwe Timm, Der Verrückte in den Dünen, Über Utopie und Literatur, Köln, 2020, S. 173 ff.

[2] Uwe Timm, Der Verrückte in den Dünen, Über Utopie und Literatur, Köln, 2020, S. 174.

[3] Nancy Fraser, Der Allesfresser, Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, Berlin, 2023, S. 195/196.

[4] Nancy Fraser, Der Allesfresser, Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, Berlin, 2023, S. 236/237.

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