Die Ukraine und die deutsche Energiewende

25. November 2024

»Wer in einer Welt begrenzter Ressourcen an exponentielles Wachstum glaubt, ist entweder verrückt oder Wirtschaftswissenschaftler.« (Kenneth E. Boulding, Wirtschaftswissenschaftler)

In der Vergangenheit habe ich ökonomische und ökologische Themen schwerpunktmäßig auf dieser Homepage dargestellt und außenpolitische Sichtweisen vernachlässigt. Die Beschäftigung mit der Außen- und Sicherheitspolitik habe ich stets anderen überlassen, weil mir schlicht und ergreifend das Fachwissen fehlt. Nun wird der Krieg in der Ukraine hinsichtlich der Osterweiterung der EU, der deutschen Energiewende und der digitalen Transformation aus Sicht der Politischen Ökonomie aber immer prägnanter.

Waffen und Kapitalrendite

 Es wäre sehr blauäugig zu behaupten, dass sich die grundsätzliche Versorgungssituation mit Öl und Gas tiefgreifend verändern würde, wenn Putin den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht geführt hätte. Sicherlich wäre dann die gegenwärtige Versorgungssicherheit wesentlich besser, das grundsätzliche Problem wird aber bleiben, mit oder ohne Putin. Mittelfristig werden wir uns damit abfinden müssen, dass die Versorgung mit Gas zurückgeht, weil schlicht und ergreifend Gas immer knapper wird. Dies gilt, bei einer endlichen Erde, für alle Rohstoffe. In einer lehrbuchmäßigen Marktwirtschaft ist das eigentlich kein Problem, weil der Preis die tatsächliche Knappheit anzeigen sollte. In der Realität funktionieren der Markt und der Preis bei der Zuteilung von seltenen Rohstoffen hingegen nicht. Hier spielen Kriege und gewaltsame Aneignungen eine gewichtigere Rolle. Der Ukraine-Krieg in Verbindung mit der Gasversorgung hat uns sehr deutlich gezeigt, dass die Spekulation auf Preise die Preise bestimmt.

Zumal die Gaslieferungen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg nur eine Seite der Medaille darstellen. Die zweite Seite sind die beträchtlichen Rohstoffvorkommen in der Ukraine. Auch in diesem Krieg geht es um handfeste Wirtschaftsinteressen und lukrative Kapitalrenditen. Nach Schätzungen lagern allein in den von Russland besetzten Gebieten (Stand November 2024) in der Ukraine Rohstoffe im Wert von über zwölf Billionen US-Dollar. Der republikanische US-Senator aus South Carolina, Lindsey Graham, macht keinen Hehl daraus, wenn er im Fernsehsender CBS verkündet: „Ich möchte diese Vermögenswerte nicht Putin überlassen, damit er sie mit China teilt … Wenn wir der Ukraine jetzt helfen, kann sie der Geschäftspartner werden, von dem wir immer geträumt haben.“ Der Westen giert nach jenen Rohstoffen, die für die grüne Energiewende und der digitalen Transformation unbedingt gebraucht werden. Neben Erdöl und Gas sind in der Ukraine sehr große Mengen von Titan, Lithium, Kobalt, Grafit, Nickel, Mangan, Kupfer, Aluminium, Bor und viele selten Erden vorhanden. Auch diese Gratisgeschenke der Natur (Karl Marx) müssen scheinbar mit harten Bandagen, kriegerischen Auseinandersetzungen und vielen toten Menschen erkämpft werden. Im Gegensatz zu der Berichterstattung in Amerika, England und Frankreich wird das Kriegsziel der Rohstoffaneignung in Deutschland gerne ausgeblendet, »[m]an lässt sich lieber von moralischen Einbildungen leiten.«[1]

Die Europäische Nachbarschaftspolitik

Machen wir ein Szenario auf und stellen uns vor, die Ukraine gewönne den Krieg. Dies wäre zwar sehr wünschenswert, aber „[d]ie EU müsste ihre seit mehr als 20 Jahren vollmundig präsentierten Osterweiterungspläne tatsächlich umsetzten,“[2] denn die Blaupause wäre die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP). Die Europäische Nachbarschaftspolitik ist ein Programm der Europäischen Union, das am 12. Mai 2004 von der EU-Kommission als Strategiepapier vorgelegt wurde. Strategisches Ziel der ENP ist es, einen „Ring stabiler, befreundeter Staaten“ um die EU herum zu etablieren. Die Staaten Albanien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro, Serbien, Kosovo sowie die Kaukasusrepubliken Armenien, Georgien und Aserbaidschan (Hauptstadt Baku am Kaspischen Meer, gigantische Ölvorkommen in den 1930 Jahren und Hitlers attraktivstes Eroberungsland) sind in diesem Strategiepapier genannt. Außerdem kommen noch hinzu die Ukraine, die Republik Moldau und die Türkei. Die EU würde von derzeit 27 Staaten auf 39 Staaten anschwellen. Diese Staaten gehören zu den ENP-Staaten, sie haben natürlich alle einen unterschiedlichen Beitrittsstatus. Beitrittskandidaten sind: Albanien, Moldau, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien, Türkei und Ukraine. Zu den Bewerberstaaten zählen Bosnien und Herzegowina, und Georgien. Der Kosovo ist ein potenzieller Beitrittskandidat, alle anderen aufgeführten Staaten gehören in die Gemeinschaft europäischer Nachbarn.

Die Demokratie und die ENP

Die britische Wirtschaftszeitung The Economist veröffentlicht jedes Jahr einen Demokratieindex, der in 167 Ländern den Grad der Demokratie misst. Deutschland landete auf Platz 15 und es wird eine vollständige Demokratie (Ranking 1-20) attestiert. Die unvollständigen Demokratien befinden sich im Ranking von Platz 21 bis Platz 74. Ab Platz 75 finden wir sogenannte Hybridsysteme und ab Platz 109 werden die autoritären Regime gelistet. Für die Beitrittskandidaten zur Europäischen Union werden folgende Werte bescheinigt: Serbien (Platz 63, unvollständige Demokratie), Republik Moldau (Platz 69, unvollständige Demokratie), Nordmazedonien (Platz 73, unvollständige Demokratie), Montenegro (Platz 74, unvollständige Demokratie), Ukraine (Platz 86, Hybridregime), Bosnien und Herzegowina (Platz 95, Hybridsystem), Türkei (Platz 103, Hybridsystem). Es ist bemerkenswert, dass im Strategiepapier der Europäischen Union das Land Aserbaidschan (Platz 141, autoritäres Regime) als befreundeter Staat auftaucht, obwohl gerade in diesem Staat die Korruption grassiert.  

Aserbaidschan

Leider ist die Meldung vom 09.08.2022 über eine unverbindliche Wunschliste der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) an das Land Aserbaidschan in den Medien untergegangen. Zur Erinnerung: Ursula von der Leyen besiegelte eine unverbindliche Energiepartnerschaft mit dem autokratischen Präsidenten Aserbaidschans, Ilham Alijew. Da enorme Investitionen nötig sind, blieb die Vereinbarung zunächst unverbindlich. Beim damaligen Treffen wurden zwar die Menschenrechte und die mangelnde Demokratie in Aserbaidschan thematisiert, der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Armenien fand scheinbar keine Beachtung. Dies scheint Ursula von der Leyen wenig zu interessieren, im Gegenteil – sie lobte Aserbaidschan als zuverlässigen Gaslieferanten. „Konkret ist eine Verdopplung der Liefermenge an Gas bis 2027 von bisher 8,15 auf dann 20 Milliarden Kubikmeter pro Jahr geplant – festgehalten in einer Absichtserklärung, die von der Leyen und Alijew unterzeichneten.“[3]

Fazit

Die Osterweiterungspläne der EU und die Rohstoffvorkommen in der Ukraine sind ein Beleg dafür, dass Menschenrechte, Demokratie und Moral sekundär sind.  Es ist zwar sehr positiv, dass Deutschland starke Signale setzt und humanitäre und militärische Hilfe leistet wie kein anderes Land. Dass die Rohstoffe in der Ukraine für die deutsche Energiewende und der digitalen Transformation wichtig sind, wird aber gerne unterschlagen. Es geht primär mal wieder, eigentlich wie immer, um handfeste Wirtschaftsinteressen und um die Stabilisierung des Kapitalismus. Dies wird in der deutschen Medienlandschaft häufig totgeschwiegen oder nur nebenbei erwähnt. Wie im ZDF Ende Oktober 2024 geschehen: „Ein Sieg über Russland hätte immense positive Auswirkungen auf die Wirtschaft in Deutschland und Europa.“


[1] Wolfgang Michel, Der erste Krieg der Energiewende, in: Der Freitag, Nr. 47, 21.November 2024, S. 3.

[2] Wolfgang Michel, der Freitag vom 24.11.2022

[3] Silvia Stöber, tagesschau.de, vom 09.08.2022

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