»Zudem ist die ontologische Verflachung ein perfektes Mittel, sich aus der moralischen Verantwortung zu ziehen. Ich war es nicht, Herr Richter, mein Revolver hat das Opfer erschossen!« (Guillaume Paoli)
Der Frühling naht und das Wetter wird jeden Tag schöner. Jetzt könnte ich überlegen, den Frühling im sonnigen Spanien zu verbringen. Also schlüpfe ich in die Rolle einer verantwortungsvollen Person die einen Urlaubsflug bucht und als Kompensation für das schlechte Gewissen Zertifikate für die Aufforstung des Regenwalds kauft.[1] Klingt gut, hilft dem Klima aber kaum, denn der aufgeforstete Wald wird erst sehr viele Jahre später die heute entstandene CO2-Belastung aufnehmen können. Außerdem muss sichergestellt werden, dass der neu entstandene Wald, aus ökonomischen Gründen nicht frühzeitig wieder abgeholzt wird. Die weltweite Entwaldung ist die zweitgrößte CO2-Emissionsquelle. Mit zunehmendem Klimawandel nimmt auch die Entwaldung zu, weil hitzebedingt die Anzahl der Waldbrände und Dürren ansteigen. Im Jahre 2023 gab es an vielen Orten der Welt große Waldbrände, die eine exorbitante Menge CO2 verursachten. Außerdem muss unsere verantwortungsvolle, nach Spanien fliegende, Person die propagierte Klimaneutralität der Fluggesellschaften in Zweifel ziehen. Zum einen wirkt Kohlendioxid hoch oben in der Luft, wo Flugzeuge es emittieren, stärker als am Boden. Zum anderen fällt die Wirkung von Kondensstreifen und Stickoxiden ebenfalls ins Gewicht. Die Kondensstreifen wirken wie eine Plane in den höheren Schichten der Atmosphäre. Diese Plane verhindert, dass Wärmestrahlungen die Atmosphäre verlassen kann. Fachleute benennen diesen Sachverhalt als Non-CO2-Effekt, der unter Umständen eine wesentlich stärkere Wirkung hat als das ausgestoßene CO2. Falls unser Tourist über eine Photovoltaik-Anlage verfügt, werden die Kondensstreifen am Himmel auch noch seinen Energieertrag mindern.
Der Non-CO2-Effekt
Apropos Kondensstreifen: Der Weltklimarat IPCC berichtete bereits im Jahr 1999 in seinem Report »Aviation and the Global Atmosphere« über die Non-CO2-Effekte des Flugverkehrs. Die Kondensstreifen, die beim Fliegen entstehen, umfassen Rußpartikel, Schwefeldioxid, Stickoxid und Wasserdampf. Der Klimaeffekt ist signifikant. In den eisübersättigten Regionen der Atmosphäre, bei niedrigen Temperaturen und in einer Höhe von 8.000 bis 12.000 Metern entwickeln sich die Kondensstreifen zu Zirruswolken. Je großflächiger diese Wolken sind, desto größer der Treibhauseffekt. Dies ist insofern bedenklich, weil am 06. Juli 2023 ein Rekord gebrochen wurde. An diesem Tag waren 134.386 Flieger[2] gleichzeitig in der Luft und übersäten den Himmel mit Kondensstreifen, die sich häufig vielfach kreuzten und ein Gittermuster bildeten.
Fliegen mit Biomüll
Auch wenn sich die Flugindustrie vom Kerosin verabschiedet und mit Agrokerosin oder anderen alternativen Kraftstoffen fliegen will, werden Kondensstreifen und Stickoxide in die Atmosphäre gebracht. Unser Spanienflieger muss auch wissen, dass Agrokerosin nicht nur aus Klärschlamm, Stroh und altem Speiseöl hergestellt wird. Zusätzlich werden noch Energiepflanzen wie Leindotter und Jatropha benötigt. Diese müssen eigens angepflanzt werden. Somit wird dieses zulasten des Waldes oder der nahrungsmittelerzeugenden Flächen gehen. Jetzt könnte unser Spanienurlauber anführen, dass man auch eine Betankung mit »biogenen Reststoffen« vornehmen könnte. Dies ist aber nur sehr eingeschränkt möglich, da der Abfall aus Pflanzen und Tieren, der sogenannte Biomüll ebenfalls knapp ist. Der fruchtbare Boden lässt sich nicht einfach vermehren. Selbst wenn die flächendeckende Herstellung von CO2-neutralem Kerosin möglich wäre, entstehen beim Fliegen trotzdem Kondensstreifen, die die Erde ebenfalls erwärmen.
Der Rebound-Effekt
Die Flugindustrie hat zwar verkündet, dass sie in absehbarer Zukunft Modelle auf dem Markt bringen, die 30 Prozent weniger Treibstoff verbrauchen. Dies klingt zwar gut, trotzdem handelt es sich um einen Bumerangeffekt, weil genau diese Flugindustrie die Zunahme des weltweiten Flugverkehrs mit 3 Prozent pro Jahr prognostiziert. Die Flugindustrie gibt die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer[3] eines Flugzeugs, beispielsweise Airbus oder Boing, mit mindestens 25 Jahren an. Somit ist die genannte Einsparung durch die drei prozentige Erhöhung des Flugaufkommens nach 10 Jahren aufgebraucht und es wird wieder mehr Kerosin verbraucht als heute. Nachhaltigkeit sieht anders aus und die freiwilligen und selten gezahlten Kompensationszahlungen können die genannten negativen Effekte auch nicht ausgleichen. Dieses Beispiel verdeutlich einmal mehr, dass die vielgepriesene Nachhaltigkeit in vielen Fällen ein Strohfeuer ist. Alle Kompensationsprojekte haben den gleichen Webfehler. Sie drosseln nicht die realen Emissionen. Wenn es gut läuft, verhindern sie über einen gewissen Zeitraum andere Emissionen.
Häufig wird von der Flugindustrie behauptet, dass die Kompensationszahlungen für neue Setzlinge im Wald verwendet werden. Hier liegen mehrere Denkfehler vor. Ein neu gepflanzter Setzling kann nicht annährend so viel CO2 aufnehmen wie ein ausgewachsener Baum. Bis der Setzling so weit ist, vergehen mehrere Jahrzehnte. Außerdem braucht man auch keine Setzlinge zu pflanzen, weil der Wald sich selbst fortpflanzen kann. Dies hat Peter Wohlleben in seinem Buch »Das geheime Leben der Bäume« eindrucksvoll geschildert. Damit sich der Wald vermehren kann, muss man ihm bloß einige Jahrzehnte Zeit geben, ihn in Ruhe lassen und vor Setzlingen verschonen. Diese Denkweise passt aber nicht in den vorherrschenden kapitalistischen Verwertungsimperativ, weil komplette Ökosysteme von internationalen Konzernen beansprucht werden, die dann komplexe Wälder in Monokulturen verwandeln, um beispielsweise Palmöl anzubauen.
Wahrscheinlich wird unser Tourist trotzdem fliegen und zur Kompensation seines schlechten Gewissens Kompensationszertifikate für den Wald kaufen und dann könnte doch alles gut sein. Nichts ist gut, weil der neueste Waldinventurbericht herausgefunden hat, dass der deutsche Wald mittlerweile zu einer CO2-Quelle, statt zu einer CO2-Senke, mutiert ist.
[1] Dies ist fiktiv und ich werden nicht nach Spanien reisen und erst recht nicht fliegen.
[2] https://www.reisereporter.de/reisenews/neuer-rekord-so-viele-fluege-wie-noch-nie-an-einem-einzelnen-tag-.
[3] Im Steuerrecht wird die Abschreibung (AfA = Absetzung für Abnutzung) für Anlagegüter wie Flugzeuge unter 20 Tonnen höchstzulässigem Fluggewicht mit 21 Jahren Nutzungsdauer angegeben. Dies trifft für den schweren Airbus nicht zu. Die Nutzungsdauer verlängert sich, weil ein Airbus A 380 bis zu 56o Tonnen wiegen kann.