»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert,
es kommt aber darauf an, sie zu verändern.«
Karl Marx, 11. Feuerbach These
 Herbert Marcuse
In den 1970 er Jahren hat mich das Buch „Der eindimensionale Mensch“ von Herbert Marcuse fasziniert. Vieles habe ich damals noch nicht verstanden, vieles blieb rätselhaft und erst viel später konnte von einem Erkenntniszuwachs die Rede sein. Sind wir wirklich so eindimensionale Wesen, dass wir an die Rationalität des Systems glauben, oder ist das System, vor allem das liberale Wirtschaftssystem; vollkommen irrational?
Ein gutes Leben  gelingt, wenn wir interdisziplinär Denken – und Bildung macht ohnehin glücklich. Die volkswirtschaftliche Glücksforschung hat nachgewiesen, dass Konsum eben nicht glücklich macht, sondern – man höre und staune- Arbeit hat es auf den ersten Platz geschafft. Auch wenn uns die Werbeindustrie andere Botschaften sendet, ein Ãœbermaß an Geld und Konsum macht ebenfalls nicht glücklich.
Die glücks- und sinnstiftende Bildung darf aber keinen eindimensionalen Weg einschlagen. Gerade Bildung lebt von der Vielfalt, von der Diskussion und dem zwischenmenschlichen Austausch. Das bedeutet, es gibt immer viele Denkansätze, Lösungen und Alternativen und es macht Spaß darüber zu diskutieren. Das Wort – alternativlos- war das Unwort des Jahres 2010, es müsste alternativlos aus unserem Wortschatz gestrichen werden.
Der Philosoph Herbert Schnädelbach hat in einem Referat an der Humboldt-Universität Berlin folgendes gesagt: »Die vor 150 Jahren von Karl Marx aufgestellte berühmte 11. Feuerbach – These (siehe oben, Anm. d. Verf.) muss heute ins Gegenteil verkehrt werden: Wir verändern heute viel zuviel, so dass wir mit der Interpretation nicht mehr nachkommen.«[1]
Rene Proglio (Frankreich – Chef und Managing Director der Investmentbank Morgan Stanley)
Lässt sich diese veränderte Welt überhaupt noch interpretieren? Aufgrund des Artensterbens und des Klimawandels muss sicherlich viel verändert werden – vor allem der homo oeconomicus, der jetzt auch noch die Künstliche Intelligenz als zukünftigen Wirtschaftsmotor entdeckt hat, muss sein Handeln tiefgreifend korrigieren. Auch das ökonomische Denken muss sich grundlegend ändern, das belegt folgendes Zitat von Rene Proglio (Morgan Stanley, Investment Bank): „…so don´t get carried away with a humanist philosophy. Like it or not, their only objective is to defend the interests of the shareholders.“  Ohne mit der Wimper zu zucken spricht er aus, was viele Ökonomen denken. Moralphilosophie[2],  Ökologie und der Zustand der Welt – alles egal, Hauptsache die Shareholder bekommen ihr Geld. Dieser Investmentbanker kann wahrscheinlich nur in ökonomischen Zusammenhängen denken. Armer Kerl – vermutlich hat er sehr viel Geld, Pekunia non olet.
Reno Progllio hat uns mit oben genanntem Ausspruch wunderbar verdeutlicht, was ein eindimensionaler Mensch ist und wie er denkt. Aber sind wir auch so?
Immanuel Kant
Nein, wir sind doch mit der Aufklärung groß geworden und wir gehen doch davon aus, dass ein freier Mensch sich stets seines Verstandes bedient und vernünftig handelt. Der kategorische Imperativ von Immanuel Kant hat uns doch geprägt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Aber jetzt mal ehrlich, können wir das wirklich wollen?
Auf die Ökonomie übertragen – ist unser Wirtschaftsmodell wirklich so gut und erfolgreich, dass wir es auf die ganze Welt übertragen können? Viele Ökonomen glauben das tatsächlich. Unser Planet ist aber jetzt schon mit der Lebensweise der Industriestaaten total überfordert und kommt an seine Grenzen. Sollen jetzt auch noch alle Chinesen Auto fahren? Das wird mit Sicherheit nicht funktionieren. Oder soll sich die ganze Welt in selbstfahrenden Autos fortbewegen?
Soll die Künstliche Intelligenz zukünftig Entscheidungen treffen, die auf einem Algorithmus basieren? Die Konsequenzen aus moralphilosophischer Sicht kann ich mir kaum vorstellen.[3]
Selbstfahrende Systeme und eigenständig handelnde Roboter müssen programmiert werden. Die Menschen, die diese Systeme programmieren müssen ethische Entscheidungen treffen in einer Welt, die Ethik verdrängt und Märkte vergöttert. Selbstgefällige Ökonomen belächeln moralphilosophische Fragestellungen und die Auseinandersetzung darüber findet bestenfalls in der Nutzentheorie, die Effizienzkriterien in den Vordergrund stellt, statt. Wie verhält es sich mit den Digitaljunkies der Ingenieursberufe? Welcher Mensch soll im Falle eines Unfalls getötet werden, wenn die Maschine die Auswahl hat zwischen Managerin, Rentnerin, Familienvater oder Hartz 4 Empfänger? Wie soll solch eine moralphilosophische Fragestellung von einem Programmierer beantwortet werden, der ein eindimensionales Studium in sehr schneller Zeit absolvierte und nie ein philosophisches Seminar besucht hat? Je schneller er sein Studium schafft, desto größer die Einstellungschancen auf dem Arbeitsmarkt, da ist das Fach Ethik eher störend und nicht so wichtig. Können wir das wollen?
Wilhelm von Humboldt hat schon im 19. Jahrhundert erklärt, dass selbstständiges Studieren bedeutet, sich zu befleißigen. Man nähert sich einem Thema und versucht es zu durchdringen, alle Facetten müssen betrachtet, durchleuchtet und selbstverständlich auch kritisiert werden. Nach einer gewissen Zeit wird das Thema beherrscht und inhaltlich kann es weiter entwickelt oder auch verworfen werden. Wilhelm von Humboldt wäre sicherlich schockiert darüber, wenn er sehen könnte, dass Inhalte einfach nur auswendig gelernt werden. Da der ökonomische Verwertungsimperativ die Bildung fest im Griff hat, ist es dringend erforderlich, dass sich auch Ökonomen und Ingenieure mit der Ethik beschäftigen müssen – heute mehr denn je.
Auf welche Ethik wollen wir uns bei selbstständig handelnden Systemen berufen. Wollen wir uns auf die aristotelische Tugendethik besinnen oder führt uns die deontologische[4] Ethik von Kant weiter, oder ist es letztendlich nur der Utilitarismus im Sinne von Bentham und Mill?
Können wir zukünftig solche Fragestellung überhaupt noch beantworten, wenn die Wirtschaft von Typen wie Rene Proglio dominiert und das Bildungssystem tendenziell auf die eindimensionale Digitalisierung reduziert wird? Oder sind meine Bedenken obsolet, weil der Profi Christian Lindner die Lösung kennt, nämlich – Digital first – Bedenken second?
Ich fürchte, dass das eindimensionale Denken in allen Facetten und Bereichen zunehmen wird, weil es den Verwertungsinteressen des kapitalistischen Wirtschaftssystems entgegenkommt. Zukünftig werden Utilitaristen und Nutzentheoretiker die Moralphilosophie dominieren und irgendwann wird der Wert eines jeden Menschen nach Effizienzkriterien taxiert und in einer Geldeinheit ausgedrückt werden.
Interdisziplinäre Bildung führt mittlerweile ein Schattendasein und Ökonomen setzen sich bestenfalls mit Technik auseinander, sie interessieren sich nicht für die Natur(gesetze). Die Hochschulen haben sich in ihrer Lehre und Forschung auf die Spezialisierung fokussiert. Und in der wirtschaftlichen Praxis beschäftigen sich Ingenieure allen Ernstes damit, wie beim Auto die Heckklappe automatisch geöffnet werden kann. Als wenn wir im Verkehrssektor keine anderen Probleme hätten.
Karl Marx
Als Ökonom wehre ich mich gegen diese eindimensionalen Tendenzen und meine, dass Karl Marx mindestens in einem Punkt recht hat: »Heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden«. Dies ist eine vortreffliche Beschreibung des guten, vielfältigen und reichhaltigen Lebens und Lernens.
Jeder Hobbygärtner kennt folgenden Ausspruch: „Ihr Garten ist ein Paradies, der macht bestimmt viel Arbeit.“ Häufig werden solche Aussagen als widersprüchlich empfunden – sind sie aber überhaupt nicht. Ich möchte nicht in einem langweiligen Paradies ohne Arbeit leben. Als Hobbygärtner empfinde ich gegenüber der Natur eine gewisse Demut und die Arbeit nehme ich als eine erfüllende Tätigkeit wahr. Der französische Sozialphilosoph Andre`Gorz trifft den Nagel genau auf den Kopf wenn er feststellt, dass die Menschen „produzieren, um zu arbeiten, statt zu arbeiten um zu produzieren.“
Ernst Bloch
Die Digitalisierung wird eine intellektuelle Monotonisierung der Ökonomie und insbesondere der Arbeit herbeiführen, weil sie alles auf zwei Ausprägungen reduziert: richtig / falsch, 1 oder 0, Strom fließt / Strom fließt nicht, Schwarz / Weiß. Die Ökonomie kennt inzwischen auch nur erfolgreiche und erfolglose „Wirtschaftssubjekte“. Wird unsere zukünftige Gesellschaft ebenfalls auf Zweierlei reduziert:
„Aber es gibt zweierlei Pack:
Das oben, kaum am Leben, plärrend schon,
doch verdörrt und verdustert.
Leer wie ein ausgetrunkener Weinschlauch.
Und dann das andere:
Das von unten, dreckig gewiß, aber wie!
Offenherzig, aber auch lauernd:
Will zugreifen.
Trockenes Pack:
Wie euch die Kugeln
um die Ohren pfeifen werden.“
Ernst Bloch (1885 – 1977)
Als Ernst Bloch vor über 40 Jahren starb und ich mich studienmäßig mit der Volkswirtschaft beschäftigte, habe ich mir ein Poster gekauft. Neben einem Foto von Ernst Bloch sind die oben genannten Zeilen auf diesem Poster zu finden. Ich habe dieses Poster damals über meinen Schreibtisch gehängt. Das Poster hängt noch immer über meinem Schreibtisch, wenn auch in einem anderen Raum, und hat von seiner Gültigkeit und Aussagefähigkeit nichts verloren.
Nachtrag
Als ich mich mit diesem Blog beschäftigte, habe ich einige (teilweise vergilbte) Bücher aus vergangenen Zeiten in die Hand genommen und mich gewundert, dass viele Gedanken, Ideen und Empfindungen wieder präsent wurden. So sind wir Menschen; Künstliche Intelligenz (KI) ist da anders, sie vergisst nie, lernt brav auswendig und wird, obwohl sie ungebildet ist, mehr Wissen akkumulieren können. Das Ärgerliche daran ist, dass die KI sich darüber noch nicht mal freuen kann.
[1] Süddeutsche Zeitung 4./5.03.1995
[2] Wenn in diesem Blog von Moralphilosophie die Rede ist, meine ich grundsätzlich die Ethik. Bewertungen von Handlungen und deren Konsequenzen werden von Ethikern vorgenommen, während Moralisten eher subjektiv nach dem Schema Gut und Böse die Sachlage beurteilen.
[3] Die ökonomischen und ökologischen Konsequenzen von selbstfahrenden und vernetzten Fahrzeugen habe ich in meinem Buch „Die Vergötterung der Märkte“ untersucht und dargestellt.
[4] Die Pflichtethik des großen Königsberger bezieht sich auf das Erforderliche oder auf das Gesollte.