2. Die digitalen Dealer

29. April 2018

Nach und nach wird klar, soziale Medien und die Digitalisierung können süchtig machen. Wenn ein Suchtverkäufer (Dealer) einem Käufer seine Ware mit dem Werbespruch – Canabis first, Bedenken second – verkaufen würde, gäbe es vermutlich einen großen Aufschrei in der Bevölkerung. Im Zusammenhang mit der Digitalisierung werden solche „Sprüche“ aber salonfähig. Die FDP prägte den Slogan: Digital first – Bedenken second.  Es soll suggeriert werden, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung langweilige und risikoscheue Bedenkenträger sind. Dies scheint in Amerika, im Silicon-Valley, ganz anders zu sein.

Kurioserweise verabschieden sich viele Ingenieure, Web- und App Entwickler aus dem Silicon-Valley von ihren eigenen, digitalen Produkten. Diese Ingenieure wenden sich gegen die sogenannte Aufmerksamkeitsökonomie und kritisieren am Internet, dass die Bedürfnisse der Werbewirtschaft viel zu stark berücksichtigt werden. Die High-Tech-Experten stehen ihren selbst entwickelten Produkten sehr kritisch gegenüber und gehen in der Kindererziehung und in der Bildung andere Wege. Die Silicon-Valley-Entwickler schicken ihre eigenen Kinder auf Eliteschulen, die Bildung und nicht Wissen vermitteln, die das Denken fördern und jegliche Art von digitalen Medien (Smartphone, Tablets und Laptops) strikt verbieten. Die Verbote treffen nicht nur Schülerinnen und Schüler sondern auch Lehrerinnen und Lehrer.

Vor einigen Jahren war in einer Talk-Show im Fernsehen ein 16-jähriger, schwedischer Jungunternehmer zu Gast. Er hatte eine kleine Firma aus dem digitalen Bereich gegründet. Der Talkmaster stellte sinngemäß folgende Fragen: „Wie kann es sein, dass ein junger Mann eine Computerfirma gründet? Sie und ihr Vater haben doch bestimmt viel Zeit am Computer verbracht?“ Die Antwort des jungen Manns war verblüffend, er sagte: „Mein Vater und ich saßen nie am Computer, wir haben zusammen Schach gespielt.“ Dieses Beispiel zeigt, dass die vielgepriesene Digitalisierung nicht unbedingt förderlich für die Bildung ist. Ob sich unsere Gehirne mit zunehmender Digitalisierung besser ausbilden können ist fraglich. Maßgebliche Hirnforscher kommen zu ganz anderen Ergebnissen.

Jeder Werbetreibende weiß, dass die Kundenbindung eine wesentliche Voraussetzung für gute Geschäfte ist. Je mehr sich ein Kunde an ein Produkt bindet, desto besser ist das für den Produzenten. Solche Sachverhalte, die in jedem Marketingbuch nachzulesen sind, werden natürlich auch in der digitalen Branche beherzigt. Die Kundenbindung läuft in diesem Segment wesentlich problemloser als in anderen Produktsparten. Jeder User von Youtube, Twitter oder Facebook wird es bestätigen können, man möchte kurz etwas checken und stellt nach einer Stunde fest, dass man sich immer noch im Medium aufhält. Die IT-Entwickler registrieren mittlerweile, dass ihre Produkte nicht nur die Kunden binden, sondern dass diese Erzeugnisse auch süchtig machen. Deshalb schützen namhafte IT-Fachleute ihre eigenen Kinder vor ihren eigenen Produkten, getreu dem Motto der Crack-Dealer: „Never get high on your own supply“. Frei übersetzt: Lass die Finger von deiner eigenen Ware. Das digitale Medien süchtig machen beziehungsweise starke Abhängigkeiten verursachen, ist mittlerweile erwiesen. Deshalb schicken diese Produktentwickler häufig ihre eigenen Kinder auf Privatschulen, die ein striktes Medienverbot aussprechen. Sehr bedenkenswert ist, dass wir in Deutschland die digitalen Medien im großen Stil kritiklos in unseren Schulen verankern wollen. Deshalb sind an dieser Stelle umfassende, ergebnisoffene Diskussionen erforderlich. Die digitalen Medien werden unsere Fähigkeiten, Gespräche zu führen. engagiert zu diskutieren und Beziehungen zu leben tiefgreifend verändern.

Die Tech-Unternehmen nutzen natürlich die gesamte Palette der ökonomischen Marketing-Palette aus, um die User an sich zu binden. Die tiefenpsychologischen Erklärungsmuster, die beispielsweise beim Glücksspiel gelten, werden für die Produktentwicklung ebenfalls berücksichtigt. Wie ist es zu begründen, dass der Smartphone-Bildschirm ein touch-screen ist, der mit „wischen“ betätigt wird? So lässt es sich erklären, „wie der Pull-to-Refresh-Mechanismus – nach unten wischen, anhalten, warten, welcher Inhalt erscheint- zu einem der am stärksten süchtig machenden und omnipräsenten Features der modernen Technologie geworden ist. „Jedes Mal, wenn man nach unten wischt, ist das wie ein Münzspielautomat“, sagt Harris[1]. „Man weiß nicht, was als Nächstes kommt. Manchmal ein schönes Foto. Manchmal nur eine Anzeige.““[2]

Moral, welche Moral?

Im Rahmen der glücksbringenden Digitalisierung wird häufig vergessen, dass bestimmte Gesetze, beispielsweise das Jugendschutzgesetz, nicht mehr eingehalten werden. Kinder, Jugendliche und Teenager müssen besonders geschützt werden. Dies ist die Aufgabe der Eltern, Erzieher, Lehrer und auch des Staates. Durch die neue Aufmerksamkeitsökonomie werden schon Kleinkinder mit Werbung zugedröhnt. Die Verfasser des Jugendschutzgesetzes aus dem Jahre 1951 würden sich die Augen reiben, wenn sie sehen könnten, dass sich schon Kleinkinder geschmacklose und gewaltverherrlichende pornografische Seiten ansehen. Die Kontrollen sind völlig unzureichend und Ethik scheint keine Rolle mehr zu spielen. Facebook kann problemlos herausfinden, ob sich ein Jugendlicher wertlos oder unsicher fühlt. Tech-Unternehmen nutzen solche „Schwachstellen“ aus, um das Selbstbewusstsein des Jugendlichen zu stärken um dann die Minderjährigen an sich zu binden. Solche Manipulationen finden schon heute im großen Maße statt. Kinder und Jugendliche werden diese Beeinflussungen natürlich anders wahrnehmen und auch anders beurteilen als Lehrer und Erzieher. Hier muss unbedingt die Bildung und Erziehung ansetzen, die natürlich massive Bedenken gegen die Digitalisierung äußern muss. Es geht natürlich nicht darum, die Digitalisierung grundsätzlich zu verdammen. Trotzdem müssen beispielsweise Geschichtslehrer und Geschichtslehrerinnen  die Jugendlichen daran erinnern, dass Manipulationen  rundweg abzulehnen sind.  Man erinnere sich an die Gestapo, die Stasi und sonstige Organisationen die das Leben der Menschen ausspionierten und auch manipulierten.

Bezüglich der Digitalisierung werden Schulen und Hochschulen ihrer Verantwortung nicht gerecht. Die Medienbildung operiert nicht kritisch, sondern bejaht relativ unwidersprochen die Digitalisierung. Die meisten Schulen setzen zunächst einmal auf den sogenannten Computerführerschein. Den Schülern wird also vermittelt, wie sie sich unfallfrei auf der Datenautobahn verhalten sollen. Der kritische Umgang mit den Medien fehlt. Um beispielsweise die Gefahren eines Sozialkreditsystems, dass in China bereits eingeführt wurde, zu erklären, wird kein Computer benötigt. Eine einfache Wissensvermittlung, wie sie ein Computerführerschein ermöglicht, gehört strenggenommen nicht zum Bildungsauftrag einer Schule oder einer Hochschule. Bildung bedeutet weiterhin ein problemorientiertes Denken, dass die Fundamente der demokratischen Zivilgesellschaft langfristig sichern muss. Gerade die Kritikfähigkeit ist einer der höchsten Bildungsgüter. Wenn Algorithmen das Kommando übernehmen und diesen unwidersprochen geglaubt werden, dann ist das Ende der Kritikfähigkeit erreicht.

„Das maschinelle Lernen (ML) hat einen fundamentalen Fehler. Es ist prinzipiell auf Diskriminierung – im technischen Sinn von „Unterscheidung“ verstanden, nicht als vorurteilsgeleitete Benachteiligung – angelegt, nämlich darauf, Daten zu bündeln und zu klassifizieren. Auf diese Weise sollen große Datenmengen segmentiert, also in für das System nutzbare Datengruppen sortiert werden. Wenn diese Cluster aber mit kultureller Voreingenommenheiten und Vorlieben befrachtet sind, verstärken sie letztlich die kulturelle Diskriminierung, die wir eigentlich beseitigen wollen. Unglücklicherweise ist es viel einfacher herauszufinden, wie eine Technologie Vorurteile verstärkt, als solche kulturbedingten Fehlerquellen zu verstopfen. Schlimmer noch: Spaltungen lassen sich erheblich leichter ausbeuten als überwinden.“[3]

[1] Tristan Harris ist ein Ex-Google Mitarbeiter und studierter Verhaltenspsychologe.

[2]  Paul Lewis, Digitale Dealer auf Entzug, in: der Freitag, Nr 10 vom 08.03.2018, S.7.

[3] Danah Boyd, Wider die digitale Manipulation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, August 2018, S. 90.

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