2.Teil: das Wirtschaftswachstum

30. August 2019

 „Vom Standpunkt einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigentum einzelner Menschen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen, wie das Privateigentum eines Menschen an einem anderen Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias[1] den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“

(Karl Marx, Das Kapital, Dritter Band, Berlin, 1957, S. 826).

 

Die Schäden, die durch den unglaublichen Ressourcenverbrauch und der damit zusammenhängenden Umweltverschmutzung entstehen, sind für den Planeten irgendwann nicht mehr tragbar. Wie im 1. Teil (Was wächst denn da?) festgestellt wurde, nimmt die Lebensqualität durch ein Nullwachstum nicht ab. Wir haben in dieser Situation genauso viele Waren zur Verfügung wie im Vorjahr.

Arbeit versus Kapital

Trotzdem bleibt das anfängliche Problem: Es ist empirisch festgestellt worden, dass durch Nullwachstum die Arbeitslosigkeit zunimmt. Könnte es hier ein Zusammenhang zwischen den Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit geben? Das Kapital ist bekanntlich kein scheues Reh, sondern ein gefräßiger Löwe, der einen unendlichen Hunger hat. Jeder Eigentümer des Produktionsfaktors Kapital wird durch den Konkurrenzdruck gezwungen, den erzielten Mehrwert permanent neu zu investieren. Dazu werden ständig neue Maschinen benötigt. Der Zwang zur Ausdehnung des Wirtschaftssystems, oder anders ausgedrückt, zum Wirtschaftswachstum, ergibt sich aus dem Widerspruch bzw. aus dem Wettbewerb von Kapital und Arbeit. Dieser ständig laufende Prozess erhöht die Dynamik und dementsprechend findet eine andauernde, immer schneller werdende Verwertung des Kapitals statt, die Kapitalakkumulation.

Die Kapitalakkumulation

Der theoretische Unterbau sowie die Darstellung und Gesetzmäßigkeiten der Kapitalbildung und der Kapitalakkumulation wurde durch den Ökonomen und Philosophen Karl Marx herausgearbeitet. Zunächst kann festgestellt werden, dass Kapitalbildung das Ziel hat, hinterher noch mehr Kapital zu besitzen.[2]  Die Investitionsgüterproduktion bewirkt, dass ein größeres Kapital zu einer höheren Produktion führt. Teile der Produktion werden nicht konsumiert, sondern investiert. Diese Investitionen erhöhen das Kapitalvolumen und dies führt wiederum zu einer noch höheren Produktion. Die Konkurrenz zwingt jeden Kapitaleigner oder Kapitalisten dazu, den erzielten Mehrwert permanent neu zu investieren. Das Kapital in Form von Investitionsgütern nutzt sich hingegen auch ab, wird dann abgeschrieben und als Schrott ausgeschieden. Je mehr Kapital eingesetzt wird, desto höher ist die jährliche Kapitalabnutzung.

Nach Joseph Schumpeter (1883–1950) findet im Kapitalismus ein Prozess der schöpferischen Zerstörung statt. Die schlechteren Produktionsverfahren werden in einer immer größer werdenden Dynamik durch bessere ersetzt. Dieser immer schneller werdende Prozess wird keineswegs durch den Markt angetrieben, sondern durch den technischen Fortschritt. Ähnlich wie Marx prognostizierte Schumpeter eine Konzentration des Kapitals bei wenigen Industrieunternehmen. Im Gegensatz zu Marx konnte er der Konzentration des Kapitals aber Positives abgewinnen. Schumpeter argumentierte in etwa so: Dadurch, dass eine permanente Kapitalkonzentration stattfindet, kann ein hohes Konsumniveau  erreicht werden. Die Großunternehmen wachsen immer stärker und die daraus resultierende Finanzkraft beschleunigt den technischen Fortschritt. Die Produktionsverfahren werden rationeller und damit ist die Voraussetzung für preiswerte und qualitativ gute Massenprodukte geschaffen. Demzufolge wird immer mehr konsumiert und das hebt angeblich den Lebensstandard.[3]

Marx sagte ebenfalls eine Konzentration des Kapitals voraus. Die daraus resultierenden Konsequenzen bewertete er hingegen anders als Schumpeter dieses circa 100 Jahre später tat. Marx begriff das Kapital nicht als Besitz, sondern vielmehr als einen Prozess. »Jeder Kapitalist unterliegt dem »Zwangsgesetz der Konkurrenz«, wird von seinen Wettbewerbern getrieben und weitet seine Produktion aus, um nicht unterzugehen.«[4] Deshalb bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Gewinn zu steigern, indem er permanent in neue und bessere Maschinen (Kapital) investiert. Er ist also kein autonomer, freier und souverän handelnder Mensch, sondern er wird von der Konkurrenz gewissermaßen gezwungen, sein Kapital zu vermehren. Marx nennt diesen Prozess Kapitalakkumulation. Der Kapitalist kann aus diesem Prozess nicht aussteigen. Tut er es trotzdem, wird er untergehen. Der Kapitalist ist, nach Marx, Träger einer Rolle, die er spielen muss, um in diesem System zu bestehen. Es macht keinen Sinn, einem Kapitalisten zu empfehlen, nicht so gierig zu sein und sich mit dem zu begnügen, was man hat. Daraus folgt lediglich, dass das Gesetz der Konkurrenz den genannten Kapitalisten »vernichtet«. Er ist verpflichtet zu investieren und noch mehr Mehrwert zu schaffen. Der einzelne Unternehmer ist nur ein kleines Rad im Getriebe, der den Zwängen des Marktes unterliegt. Er mag sich und seine Entscheidungen als sehr wichtig ansehen, »aber tatsächlich ist er nur ein Vollstrecker der permanenten Verwertung«.[5] Marx selber sprach nie vom Kapitalismus, auch nicht vom Produktionsfaktor Kapital. Er bevorzugte den Begriff kapitalistische Produktionsweise, der in diesem Zusammenhang auch zielführend ist. Der Unternehmer muss diese Rolle spielen und sich dieser Produktionsweise anschließen; er hat scheinbar keine Alternative, er muss investieren und wachsen, andernfalls geht er unter. Insofern ist der Begriff „Freie Marktwirtschaft“ widersprüchlich, weil diese Wirtschaftsform keineswegs frei ist, sondern eine totale Unterwerfung, hinsichtlich der Gesetze des Marktes und seiner Zwänge, wird rigoros eingefordert.

Die Beschleunigung

Um das System des Kapitalismus stabil zu halten, ist eine permanente Steigerung des Wirtschaftswachstums erforderlich. Diese andauernde Stoff- und Energietransformation kann in einer begrenzten Welt mit limitierten Ressourcen nicht funktionieren. Obwohl das Wirtschaftssystem an seine Grenzen kommt, wird das Wachstum in der kapitalistischen Produktionsweise benötigt. Die Beschleunigungsprozesse und Energieumsätze  waren noch nie so extrem wie in der heutigen Zeit. Trotzdem werden Politiker und Wirtschaftswissenschaftler nicht müde, zu behaupten: Wir benötigen mehr Wettbewerb und mehr Wachstum. Nur Wettbewerb und Wachstum können Deutschland, Europa und die ganze Welt retten. Ist es wirklich eine Rettung oder ein Irrweg? Führt das Wachstum nur dazu, die Kapitalien auf den Finanzmärkten zu vermehren? Oder macht der wachsende Wettbewerb uns, die Menschen und die Natur, krank?

Um die Klimakatastrophe abzuwenden, müssen die Beschleunigungsprozesse gebremst werden. Bloß wie soll es funktionieren, wenn die Digitalisierung als Lösungsmöglichkeit diskutiert wird, obwohl sie die Welt massiv energetisch auflädt? Schon jetzt wird die Energie von 25 ausgewachsenen Atomkraftwerken benötigt, nur um das Internet weltweit zu betreiben, Tendenz steigend. Die smarte und scheinbar umweltfreundliche Digitalisierung  ist keine Lösung, weil sie der Brandbeschleuniger für den Klimawandel ist. Wie soll der technische Fortschritt als Verursacher des Wirtschaftswachstums und der permanenten Verwertung gleichzeitig die Lösung für dieses Problem sein?

Obwohl das Wirtschaftswachstum die Produktionsfaktoren Arbeit und Natur partiell negativ beeinflusst, sind namhafte Wirtschaftsforschungsinstitute der Auffassung, dass in Deutschland das Beschäftigungsproblem nur gelöst werden kann, wenn das Wirtschaftswachstum mindestens 2 Prozent jährlich beträgt. Selbst wenn diese Institute in ihren Veröffentlichungen richtigliegen, bedeutet eine Wachstumsrate von 2 Prozent, dass sich die Güterproduktion innerhalb von nur 35 Jahren verdoppelt. Betriebswirte lassen die Sektkorken knallen, wenn ein Wachstum von 4 Prozent eintritt. Bei dieser Wachstumsrate würde sich die Verdoppelung schon nach knapp 18 Jahren einstellen. Fakt ist aber, dass mit zunehmendem Wirtschaftswachstum die von der Natur gesetzten Grenzen schneller erreicht werden. Das diese Wirtschaftsforschungsinstitute die Natur überhaupt nicht berücksichtigt, ist keine Neuigkeit. Der Zwang zum Wirtschaftswachstum ist aber keineswegs ein Naturzwang, sondern ein menschengemachter Zwang.

Im 3. und letzten Teil werde ich mich mit Lösungsmöglichkeiten beschäftigen. Hier wird die Unterscheidung zwischen Arbeiten und Herstellen zu beachten sein. „Alles Herstellen ist gewalttätig, und Homo faber, der Schöpfer der Welt, kann sein Geschäft nur verrichten, indem er Natur zerstört.“[6]

[1] gute Familienväter

[2] Vgl. Ulrike Hermann, Der Sieg des Kapitals, München Berlin, 2016, S. 9

[3] Die Konsequenzen für die Umwelt waren Schumpeter nicht bewusst. Im Gegensatz zu Marx beschäftigte er sich nicht bzw. nicht ausreichend mit der Ausbeutung der Natur.

[4] Ulrike Hermann, Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung, Frankfurt / Main, 2016, S. 125

[5] Ulrike Hermann, Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung, Frankfurt / Main, 2016, S. 123

[6] Hannah Arendt, Vita activa, München, 1967, S. 165

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