Verteilungsgerechtigkeit ist das Leitbild einer Volkswirtschaft, in der sowohl Vermögen als auch Einkommen nicht gemäß der »Willkür der Märkte« verteilt werden, sondern gerecht nach den Maßstäben gesellschaftlicher Wertvorstellungen. In einem Interview im Freitag vom 25.Oktober 2018 führte der Philosoph Christian Neuhäuser aus, dass das Steuersystem diese Verteilungsgerechtigkeit herstellen und den Reichtum begrenzen kann. Recht hat er.
Der Staat kann über die Steuergesetzgebung eine Umverteilung durchführen und hat, vereinfacht ausgedrückt, prinzipiell zwei Möglichkeiten. Die Steuer kann über das Einkommen oder den Konsum erhoben werden. Tendenziell trifft eine Veränderung der Einkommen- und Lohnsteuer die Klein- und Mittelverdiener und eine Veränderung der Umsatzsteuer die ärmere Bevölkerung. Da ein Durchschnittsverdiener aufgrund des monatlichen Lohnsteuerabzuges keine Chance hat, der Besteuerung zu entgehen, kann der Reiche durch geschickte Auslegung der steuerlichen Tatbestände im größeren Umfang seine Steuerlast herunterrechnen.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich die Steuergesetzgebung immer weiter von der Verteilungsgerechtigkeit entfernt hat. Wie sah nun die Besteuerung vor der neoliberalen Wende der 1980 er Jahre aus? Im Jahre 1989 betrug der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer 56 Prozent, heute sind es 42 Prozent (plus 3 Prozent Reichensteuer). Ein Bestandteil der Einkommensteuer ist die Kapitalertragsteuer. Die der Kapitalertragsteuer unterliegenden Erträge wurde noch Anfang der 2000er Jahre bei der späteren Veranlagung zur Einkommensteuer erfasst. Somit wurden die Brutto-Kapitalerträge mit dem individuellen Einkommensteuersatz des jeweiligen Steuerpflichtigen belastet, sodass die Steuer auch den Spitzensteuersatz erreichen konnte. In der Folgezeit entlastete man große Kapitaleinkommen; der Steuersatz der Kapitalertragsteuer beträgt mittlerweile nur noch 25 Prozent. Auch die Körperschaftsteuer für juristische Personen (AG, GmbH) wurde reduziert. Bei dieser Steuer ist der Vergleich problematisch, weil im Jahre 2000 ein Systemwechsel vorgenommen wurde. Bis dahin galt das außerordentlich komplizierte Anrechnungsverfahren bei der Körperschaftsteuer. Aber auch hier fand eine massive Steuerentlastung statt. Im Jahr 2002 betrug der Körperschaftsteuersatz 25 Prozent, heute sind es nur noch 15 Prozent. Außerdem verzichtet man seit 1997 auf die Erhebung der Vermögensteuer. Zusammengefasst betrachtet, hat die neoliberale Wende die Besserverdiener steuerlich entlastet.
Dies trifft auf die ärmere Bevölkerung, die teilweise ihr gesamtes Einkommen für den täglichen Lebensunterhalt ausgeben muss und somit kaum eine Möglichkeit zum Sparen oder zur Kapitalbildung hat, nicht zu.[1] Die, den Endverbraucher belastende, Umsatzsteuer wurde keineswegs reduziert, sondern von 11 Prozent im Jahre 1990 sukzessive auf 19 Prozent im Jahre 2017 erhöht. Für die Unternehmen spielt die Umsatzsteuer keine Rolle, weil sie lediglich ein durchlaufender Posten ist.
Insgesamt betrachtet folgt daraus, dass die neoliberale Wende die ärmere Bevölkerung durch ihre Steuerpolitik belastet und die reichere Bevölkerung entlastet hat. In Zahlen ausgedrückt: Zwischen 1998 und 2015 stieg die Steuerbelastung der ärmeren Bevölkerung um 5,4 Prozent, während die Belastung für die reichere Bevölkerung um 2,3 Prozent sank. In diesem Zusammenhang wird ein wichtiges Prinzip der Besteuerung immer stärker ausgehöhlt, nämlich das Leistungsfähigkeitsprinzip. Steuern müssen sich zwingend an diesem Prinzip orientieren, das besagt, dass alle natürlichen Personen entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ein prozentual gleiches Opfer bringen müssen, wobei sich die wirtschaftliche Leistung am Einkommen orientiert. Das bedeutet natürlich nicht zwangsläufig, dass Besserverdienende auch mehr leisten. Sehr häufig steht das Gehalt der volkswirtschaftlichen Leistungsträger in keinem Verhältnis zu der erbrachten Arbeitsleistung. Viele (oder die meisten) Volkswirte sind der Auffassung, dass eine Erhöhung der Einkommensteuer zu einer Auflösung der Leistungsgesellschaft führt. Damit wird dann das Ende der unternehmerischen Tätigkeit besiegelt. Dem stimme ich nicht zu, denn im Sinne der Vita activa von Hannah Arendt sind wir tätige Wesen.
Auch wenn das Steuerrecht ein kompliziertes Thema ist, dürfen wir die steuerpolitische Deutungshoheit nicht den Neoliberalen überlassen. Denn Steuersenkungen, wie beispielsweise die Abschaffung des Solidaritätszuschlages, sind keineswegs Geschenke für die Mittelschicht, sondern sollen fast ausschließlich hohe Einkommen entlasten. Die Reduzierung von Steuersätzen führt zu Einnahmeausfällen, die dann durch Ausgabenkürzungen kompensiert werden müssen. Diese Kürzungen betreffen dann wiederum kleine und mittlere Einkommensgruppen.
(Anmerkung: Dieser Artikel wurde auch im Internetteil der Wochenzeitung: der Freitag veröffentlicht.)
[1] Friedrich Merz (der mit den Bierdeckeln) forderte auf der Bundespressekonferenz Ende Oktober, Deutschland müsse ein Land von Aktionären werden. Auf der gleichen Pressekonferenz hat er uns fast zeitgleich erklärt, dass die Folgen der Finanzkrise für die Kapitalmärkte noch nicht absehbar sind. Vielleicht übernimmt neuerdings Blackrock die Risiken beim Aktienkauf?