„Schon seit geraumer Zeit versuchen die Naturwissenschaften, auch das Leben künstlich herzustellen, und sollte ihnen das gelingen, so hätten sie wirklich die Nabelschnur zwischen dem Menschen und der Mutter alles Lebendigen, der Erde, durchschnitten.“ (Hannah Arendt)
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Der diesjährige Wahlkampf in Deutschland hat drei Problemlagen ausgemacht und diskutiert: Klimawandel, Digitalisierung und Fortschritt. Der Zielkonflikt zwischen Klimawandel und Digitalisierung wurde aber nicht erörtert, denn eine zunehmende Digitalisierung wird den Stromverbrauch ankurbeln und somit den CO2-Ausstoss[1] erhöhen. Außerdem flogen in diesem Jahr die Weltraumtouristen Jeff Bezos (amazon) und Richard Brenson (virgin) ins All. Es ist nur eine Frage der Zeit, dann wird auch Elon Musk (tesla) den Raumanzug anziehen, den Weltraumtourismus propagieren und damit seine Innovationsfreudigkeit herausstellen. Sind Innovationen grundsätzlich immer fortschrittlich?
Fortschritt vs. Innovation
Die nachfolgenden Zeilen sind bereits veraltet. In dem Augenblick, wo diese Zeilen gelesen werden, sind wieder neue Innovationen auf dem Markt oder der technische Fortschritt hat die Zeit beschleunigt. Ist es deshalb schon ein Fortschritt, wenn die Zeit voranschreitet? In einer Tageszeitung las ich kürzlich, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung auf Innovation und technischen Fortschritt setzt. Eine Innovation muss aber nicht gleichzeitig ein Fortschritt sein. „Die Begriffe sind keine Synonyme und unterscheiden sich aus gutem Grund. Die Inquisition, der Stalinismus und das Maschinengewehr waren zu ihrer Zeit ohne Zweifel höchst innovativ – aber deswegen unbedingt ein Fortschritt? Jede Beurteilung als Fortschritt ist ebendies: eine Beurteilung.“[2] Moderne Gesellschaften werden keineswegs durch eine verbesserte Waffentechnologie und digitaler Ãœberwachungsmedien sicherer, sondern durch das Gewaltmonopol des Staates, „und das ist das Ergebnis sozialer Intelligenz, nicht wissenschaftlicher. Solche Intelligenz muss sich immer auf einen normativen Zweck hin begründen, was dann herauskommt, ist nicht Innovation, sondern Fortschritt. Dass gegenwärtig der Begriff der Innovation den des Fortschritts ersetzt zu haben scheint, ist kein Zufall: denn die Innovation braucht keine normative Referenz, sie ist ja schon erreicht, wenn etwas neuer ist als etwas anderes, unabhängig von der Frage, ob es überhaupt der Erneuerung bedurfte.“ [3]
Außerdem ist die Fortschrittsidee nicht mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit gleichzusetzen, denn „die gesellschaftliche Realität (ist] widersprüchlicher und fragiler (…], als es uns das Fortschrittsnarrativ glauben machen will“[4], weil die überwiegende Mehrzahl der gegenwärtigen kapitalistischen Innovationen weder gemeinwohl- noch ökologieverträglich sind.
Warum Innovationen fast ausschließlich dem Kapital dienen
Über zweihundert Jahre wurde die Modernisierung und der technische Fortschritt mit der Industrialisierung gleichgesetzt. Neuerdings wird auch die Globalisierung in einem Atemzug mit den genannten Begriffen verknüpft. Durch die zunehmende Industrialisierung erhöhte sich auch die, von Karl Marx beschriebene, Kapitalakkumulation, die man tunlichst nicht kritisieren sollte, will man sich nicht als unmoderner und gestriger Mensch outen. In den Wahlkämpfen des letzten Jahrhunderts war es durchaus üblich, über den Produktionsfaktor Kapital zu streiten. Heute wird jede Äußerung eines Politikers oder einer Politikerin zu diesem Thema sofort von den Finanzmärkten respektive der Börse quittiert.
Nach Karl Marx bleibt dem Kapitaleigentümer nichts anderes übrig, als den Gewinn zu steigern, indem er permanent in neue und bessere Maschinen (Kapital) investiert. Der Kapitaleigentümer ist also kein autonomer, freier und souverän handelnder Mensch, sondern er wird von der Konkurrenz gewissermaßen gezwungen, sein Kapital zu vermehren. Marx nennt diesen Prozess Kapitalakkumulation.[5]
„Moderne“ Industriegesellschaften basieren auf einer Doppelstruktur, denn die Massenproduktion ist nur mit dem Massenkonsum möglich und umgekehrt. Und hier offenbart sich die „Falle“ des technischen Fortschritts, denn kapitalistische Wirtschaftssysteme werden grundsätzlich von einer Steigerungslogik angetrieben, die bereits Karl Marx klar umrissen hat. Der technische Fortschritt begründet sich im Streben nach Profitabilität. Dieser Profit muss wieder reinvestiert werden in neue Investitionen. Dies führt dann zu einer „Ausdehnung der wirtschaftlichen Aktivitäten“ (Andreas Reckwitz) und zu einem systemimmanenten Wirtschaftswachstum.
Die Grenzen des Wachstums sind aber schon lange erreicht. Um das ökonomische Wachstum differenziert zu beurteilen, ist es deshalb ratsam, zwischen Fortschritt und Innovation zu unterschieden. Sicherlich gibt es viele Innovationen die als fortschrittlich bezeichnet werden können. Im Gegenzug sind aber auch viele Innovationen als Rückschritt zu deuten. Dies sind vor allem Innovationen die der „Reichweitenvergrößerung“ (Hartmut Rosa) und der „economy of speed“ (Andreas Reckwitz) dienen. Innovationen die auf Entschleunigungen abzielen, könnten vielfältige ökonomische und ökologische Probleme lösen und auch der Verzicht könnte zum Fortschritt beitragen, aber der „Verzicht ist in den Augen der spätmodernen Subjektkultur etwas Negatives, ja geradezu Pathologisches. Es scheint der Grundsatz zu gelten: Es muss in diesem, eigenen Leben auch das gelebt werden, was im menschlichen Leben insgesamt (er)lebbar ist.“[6] Die gegenwärtige Reichweitenvergrößerung ist einmalig in der Menschheitsgeschichte, sie wird aber zwangsläufig an ihre Grenzen kommen. Es wäre in der Tat ein gesellschaftlicher Fortschritt, wenn die Suffizienz und die Entschleunigung positiv gedeutet werden. „Man muss das Aufhören trainieren“ (Harald Welzer). Aber dies wird gegenwärtig von keiner Partei thematisiert und selbst die Grünen scheuen vor dieser unpopulären Thematik zurück.
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[1] Dies geschieht, wenn die Energiequelle aus Kohlenstoff (Kohle, Öl, Gas) besteht. Strom hingegen ist nur ein Energieträger.
[2] Richard David Precht, Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens, München, 2020, S. 49
[3] Harald Welzer, Nachruf auf mich selbst, Frankfurt am Main, 2021, S. 26/27
[4] Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusion, Berlin, 2019, S.11
[5] Der Kapitalist kann aus diesem Prozess der Kapitalakkumulation nicht aussteigen. Tut er es trotzdem, wird er untergehen. Die Kapitalisten und auch die Arbeiter werden bei Marx Charaktermasken genannt. Dies ist keineswegs bösartig zu verstehen. Der Kapitalist ist Träger einer Rolle, die er spielen muss, um in diesem System zu bestehen. Es macht keinen Sinn, einem Kapitalisten zu empfehlen, nicht so gierig zu sein und sich mit dem zu begnügen, was man hat. Daraus folgt lediglich, dass das Gesetz der Konkurrenz den genannten Kapitalisten »vernichtet«. Er ist verpflichtet zu investieren und noch mehr Mehrwert zu schaffen. Der einzelne Unternehmer ist nur ein kleines Rad im Getriebe, der den Innovationszwängen des Marktes unterliegt. Er mag sich und seine Entscheidungen als sehr wichtig ansehen, aber er ist tatsächlich nur ein Vollstrecker der permanenten Verwertung.
[6] Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusion, Berlin, 2019, S.229/230