Die Beherrschung der Zeit

02. Januar 2020

„Wieder ein Tag weniger.“

Samuel Beckett

 Obwohl sie nicht wissen wer Godot ist, warten Wladimir und Estragon auf Samuel Becketts Protagonisten. Auch bezweifeln sie, ob Godot jemals kommt, warten aber trotzdem geduldig. Estragon charakterisiert das Warten und spricht es dann aus: „Wieder ein Tag weniger.“

Wieder ein Tag weniger, in dem der moderne Mensch seine Zeit „vergeudet“ und nicht mit Geld verrechnet. Er wartet, verzichtet auf Konsum und Produktion und demzufolge findet auch keine Zerstörung statt. Ist nun die schöpferische Zerstörung der Grundcharakterzug der modernen Welt und zerstören wir gleichzeitig unsere Eigenzeit?

Die schöpferische Zerstörung

Der makroökonomische Begriff der schöpferischen Zerstörung wurde von Joseph Schumpeter (1883-1950) geprägt. Damit eine Neuordnung stattfinden kann, ist eine permanente Zerstörung alter Strukturen notwendig. Dies ist kein Systemfehler, sondern eine notwendige Bedingung für marktwirtschaftliche Prozesse, die für die Produktion eine ständige Naturausbeutung benötigten, um den steigenden Konsum zu befriedigen.

Die schlechteren Produktionsverfahren werden in einer immer größer werdenden Dynamik durch bessere ersetzt. Dieser immer schneller werdende Prozess wird keineswegs durch den Markt angetrieben, sondern durch den technischen Fortschritt, mit der Konsequenz, dass eine Konzentration des Kapitals stattfindet. Diesen Prozess hat Karl Marx in seinen Ausführungen zum „tendenziellen Fall der Profitrate“  erklärt.

Die Zerstörung der Produktions- und Konsumtionsprozesse nimmt immer größere Ausmaße an. Ich mag mir nicht vorstellen, dass irgendwann das Internet zusammenbricht und die Menschheit hätte alle Bücher und Zeitungsarchive vernichtet. Mittlerweile findet in allen möglichen Bereichen die Digitalisierung statt und es steht zu befürchten, dass in sehr vielen Sektoren der Gesellschaft kulturelle Errungenschaften für immer verschwinden. Wir machen uns nicht nur von den neuen digitalen Göttern wie Mark Zuckerberg und Jeff Bezos abhängig, auch das  Internet wird unser Leben bestimmen bzw. diktieren. Können wir uns dieses Diktat der Ökonomie -die permanente Zerstörung- überhaupt noch leisten?

Der Zeitdruck nimmt zu

 Die schöpferische Zerstörung wird durch den technischen Fortschritt angetrieben, der sich immer schneller vollzieht. Heute ist der Zeitdruck in Forschung und Entwicklung so groß, „dass die Ergebnisse von wissenschaftlichen Diskursen und Laborversuchen nicht mehr abgewartet werden, sondern eine als gültig behauptete Theorie und eine als nützlich behauptete Neuerung die andere jagt und, obwohl ihre tatsächliche wissenschaftliche und praktische Tauglichkeit noch gar nicht erwiesen ist, gleich weltweit verbreitet und massenhaft praktisch umgesetzt würde. All das scheint aber längst der Fall zu sein, wenn man etwa an die Entscheidung für die Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung vor gerade mal 50 Jahren denkt….“[1]

Das Wirtschaftssystem fordert immer kürzer werdende Zerstörungszyklen und das sogenannte „Neue“ wird sofort vermarktet. Dies ist aber kein Naturgesetz, sondern nur der kapitalistische Imperativ des Wirtschaftswachstums. Die Beschleunigung nimmt zu und unser Zeitgefühl verändert sich, obwohl wir Menschen naturgemäß ein stark eingeschränktes Gefühl für die Zeit haben. Wir denken maximal in Zeitkategorien, die unser Leben beinhalten – einhundert Jahre ist demnach ein lange Zeitspanne in der unvorstellbar viel verändert wird, beispielsweise sterben in kürzester Zeit die Arten. Soziologen erklären das Artensterben und die damit verbundene Gleichgültigkeit mit dem Phänomen der shifting baselines. Weil der Mensch Teil der Natur ist, wird paradoxerweise angenommen, dass seine Handlungen, innerhalb seiner Lebenszeit, normal und natürlich sind. Für die Erde, für die Natur und für die Umwelt sind einhundert Jahre aber nur ein sehr kurzer Zeitraum.

Die Rohstoffe sind endlich

Dies wird deutlich, wenn die Lebenszeit eines Menschen in Relation zu der „Produktionszeit“ der Natur gesetzt wird. Die Natur hat vor vielen Millionen Jahren angefangen, bestimmte Rohstoffe, zum Beispiel Rohöl, zu produzieren. Der größte Teil des Rohöls wurde in zwei Phasen der globalen Erwärmung gebildet, vor 90 Millionen und 160 Millionen Jahren. Vor circa 160 Millionen Jahren wurde Sonnenenergie in Form von fossilen Brennstoffen in der Erde gelagert. Dies ist die konzentrierte Sonnenenergie der Urzeit, die im Laufe von Jahrmillionen in das Erdinnere »gewandert« ist und dort gespeichert wurde. Seit ungefähr 200 Jahren wird Öl mit steigender Tendenz genutzt, die „Produktionszeit“ hat 160 Millionen Jahre gedauert. Viele Menschen sind zufrieden, wenn sie hören, dass das Öl noch für 50 Jahre reicht. Es ist aber vollkommen zweitrangig, ob das Öl noch 40, 50 oder 70 Jahre reicht, wenn man bedenkt, dass diese Zeiträume in der Zivilisationsgeschichte der Menschheit nur ein Wimpernschlag der Geschichte sind.[2]

Die Geschichte der Erde – dargestellt in einem Jahr

Um ein Gefühl für die Zeit zu bekommen, wird nun der unvorstellbar lange Zeitraum vom Beginn der Erde bis zur heutigen Zeit in einem vorstellbaren Raum eines Jahres dargestellt.

„1. Januar: Sonne und Erde existieren. März/April: Die ersten Lebewesen entstehen im Meer. November: Die ersten Tiere betreten das Land. 31. Dezember frühmorgens: Die meisten der heute existierenden Arten haben das Licht der Welt erblickt. Erst in der zweiten Tageshälfte erscheinen menschenähnliche Säugetiere. Je mehr Zeit vergangen ist, desto dichter folgen nun die Neuerungen, desto komplexer werden die Geschöpfe. Mit der Erscheinung des Menschen ergibt sich ein weiterer evolutionärer Sprung. Bezogen auf das Modelljahr, geht es nun um Minuten, zum Schluss um Sekunden. Eine Minute vor dem Jahreswechsel entstehen die ersten sogenannten Hochkulturen, zwanzig Sekunden vor dem Jahreswechsel wird – so die kulturelle Überlieferung des Christentums – Jesus geboren, zehn Sekunden vor dem Jahreswechsel Karl der Große, eine Sekunde vor dem Jahreswechsel Bismarck.“[3]

Bezogen auf die heutige Zeit beträgt der Zeitraum zwischen industrieller Revolution und heute einen Wimpernschlag. In dieser unvorstellbar kurzen Zeit haben wir es geschafft, dass menschliche Leben auf der Erde zu bedrohen. Obwohl – haben WIR es geschafft die Biospäre zu verstören? Ich habe an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass der Ausdruck Anthropozän problematisch ist, weil er suggeriert, dass die gesamte Menschheit für den aktuellen Zustand der Natur verantwortlich ist. Um die globalen Ungleichheiten, den Imperialismus und die Kapitalakkumulation mit einzuschließen, ist der Begriff Kapitalozän im ökonomischen Sinne zielführender, weil damit die Verantwortlichen nicht aus ihrer besonderen Verpflichtung entlassen werden.

[1] Fritz Reheis, Die Resonanzstrategie, München, 2019, S.67

[2] Um die Klimakatastrophe erfolgreich zu verhindern, darf ohnehin kaum noch Öl verbrannt werden.

[3] Fritz Reheis, Die Resonanzstrategie, München, 2019, S.36

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