Die kalte Progression

11. Dezember 2018

„Um eine Steuererklärung abgeben zu können muss man ein Philosoph sein,

für einen Mathematiker ist es zu schwierig.“

(Albert Einstein)

 Was mich geradezu fassungslos macht, ist die Tatsache, dass viele Politiker gerade in steuerrechtlichen Fragen offenbar sehr widersprüchlich argumentieren und häufig, bewusst oder unbewusst, unwahre Behauptungen aufstellen. Je nach Klientel und Diskussionsrunde werden von ein und demselben Politiker unterschiedliche populistische Positionen bedient. Scheinbar können sie sich das erlauben, weil sich viele Bürgerinnen und Bürger und auch Politikerinnen und Politiker im Steuerrecht zu wenig auskennen und der Populismus mittlerweile allgegenwärtig ist.

Das folgende Beispiel verdeutlicht den Zusammenhang: In der Bundestagsdebatte zur Steuermehrbelastung durch die kalte Progression am 26.04.2018 bringt die AfD einen Antrag ein. Der ehemalige Kämmerer der Stadt Frankfurt, Albrecht Glaser (AfD) möchte, dass sich der Finanzausschuss mit der kalten Progression beschäftigt. Der Ausdruck Kalte Progression bringt schon Unbehagen mit sich. Er suggeriert etwas zutiefst Ungerechtes.

Der Vortrag von Albrecht Glaser war auf den ersten Blick sehr fundiert und würde dem Durchschnittsbürger gefallen. Die Zahlenbeispiele waren realistisch und man konnte durchaus nachvollziehen, wo die steuerlichen Probleme der kalten Progression zu verorten sind. Wenn jetzt die Debatte beendet worden wäre, hätte der AfD Mann vom Durchschnittsbürger sehr viel Zuspruch erhalten. Die Debatte ging aber mit dem Abgeordneten Hans Michelbach (CSU) weiter und er hält mit guten Argumenten dagegen. Er führte aus, dass „die Bekämpfung der kalten Progression [ ]l längst gängige Praxis“ sei. Die nachfolgenden Redner der FDP, SPD, die Linke, B`90/Grüne und CDU ergänzten die Argumentation und führten ebenfalls fachlich versiert aus, warum die kalte Progression nicht in den Finanzausschuss gehöre.

In der Folgezeit hatten wir im Jahre 2018 jeweils einen Wahlkampf in Bayern und in Hessen. Die Argumente bezüglich der kalten Progression, die in den Medien in dieser Zeit zu hören waren, hatten nichts mit der Debatte im Parlament zu tun. Die Politiker fast aller Parteien holten jetzt im Wahlkampfmodus die fadenscheinigen Argumente bezüglich der kalten Progression hervor. Offensichtlich ist dieser Begriff semantisch gut geeignet, dem Steuerbürger ein Horrorszenario zu beschreiben, denn Steuerbelastungen sind verpönt.  Die Groko möchte sie in jedem Fall vermeiden und die FDP ist grundsätzlich gegen Steuererhöhungen. Wenn nun auch noch unser Steuertarif eine kalte Progression zulässt, dann schlägt die Mehrzahl der Steuerbürger Alarm.

Natürlich stellt die kalte Progression eine Steuermehrbelastung dar. Sie würde entstehen, wenn die Eckwerte des progressiven Steuertarifs nicht der Inflationsrate angepasst werden. Die Grundlage des Steuertarifs bezieht sich auf nominale Werte. Das bedeutet, dass das tatsächlich gezahlte Einkommen der Besteuerung unterliegt. Bei einem reinen nominalen Gehaltsplus könnte es sein, dass der Preisanstieg dazu führt, dass der Gehaltsempfänger real weniger Geld erhält. Die kalte Progression kann dann zu einer Verringerung des Realeinkommens führen, wenn die Einkommenssteigerung nach Steuerabzug nicht höher ist als die Inflationsrate. Eine Lohnerhöhung kann aber niemals dazu führen, dass nach der Lohnerhöhung weniger Geld zur Verfügung steht. Dieser Eindruck wird fälschlicherweise häufig von einigen Politikerinnen und Politiker vermittelt.

Leider wird diese Gespensterdebatte in Wahlkämpfen immer wieder geführt, obwohl die Politiker es besser wissen (müssten). Die Bundestagsdebatte vom 26.04.2018 belegt, dass die Mitglieder des Finanzausschusses die kalte Progression sehr wohl realistisch einschätzen können.

Zwei bzw. drei Gründe entkräften die kalte Progression:

  1. Die Eckwerte werden von Zeit zu Zeit angepasst, beispielsweise durch die sukzessive Anhebung des Grundfreibetrags und der Anpassung der Tarifkennlinie. (allein mit diesem Argument ist der Mythos der kalten Progression schon entkräftet.)
  2. Wir haben die letzten Jahre (leider) keine Inflation gehabt. Insofern kann auch keine kalte Progression entstehen. Im Gegenteil, die EZB musste die Deflation abwehren.
  3. Die kalte Progression wurde immer mit dem Spitzensteuersatz von 42% begründet, den angeblich schon Einkommensbezieher ab circa 54.000,00 Euro zahlen.

Das dritte Argument entkräftet zwar nicht die kalte Progression, es wird aber in diesem Zusammenhang gerne von Politikerinnen und Politiker genutzt, um den Sachverhalt noch gespenstischer darzustellen. In einem weiteren Blog werde ich mich mit dem Mythos des Spitzensteuersatzes beschäftigen.

Die kalte Progression ist sehr medienwirksam und wird von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen. Vor allem neoliberale Politiker und Kritiker der kalten Progression nutzen dies für Wahlkampfzwecke aus und verschweigen gerne das Gegenteil, nämlich die sogenannte „kalte Regression“. Sie entsteht bei den meisten Verbrauchssteuer, beispielsweise bei der Kfz Steuer oder bei der Grundsteuer. Da der Staat auf die Anpassung der Mengensteuersätze oder der Grundstückswerte verzichtet, spart der Bürger an dieser Stelle sehr viel (Steuer)geld. Denn diese Steuern steigen nicht automatisch, wenn die Wirtschaft wächst.

Es ist schon erstaunlich, dass die kleinsten Ungerechtigkeiten im Steuertarif weit aufgebläht werden, während die kalte Regression in der öffentlichen Diskussion nicht vorkommt und gleichzeitig von einem Bierdeckel (einfache Steuererklärung) geträumt wird. Ein einfaches Steuerrecht führt natürlich zu noch größeren Ungerechtigkeiten. Das Steuerrecht muss nicht vereinfacht werden, sondern die Politikerinnen und Politiker müssen die Bürgerinnen und Bürger angemessen und wahrheitsgemäß informieren.  Die kalte Progression ist kein Problem des Steuersystems; die Einkommensentwicklung in Deutschland stellt hier die größere Schwierigkeit dar.  Denn leider gilt noch immer: “Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt”  (Gerhard Schröder auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Jahre 2005).

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