Der Ökonom Adam Smith (1723 – 1790) prägte die Metapher der unsichtbaren Hand. In seinem gesamten ökonomischen Werk wurde sie nur einmal erwähnt, nämlich in seinem Buch Der Wohlstand der Nationen im zweiten Kapitel des vierten Buches. Hier setzte er sich kritisch mit Einfuhrbeschränkungen für ausländische Güter auseinander. Da sich dieser Markt wie mit einer unsichtbaren Hand automatisch in ein Gleichgewicht bringt, sind Einfuhrbeschränkungen (Zölle u.ä.) abzulehnen.
Wie lässt sich dieser Sachverhalt volkswirtschaftlich erklären?
Zunächst ist die Inflationsrate zweier Länder zu vergleichen. Wir gehen davon aus, dass die Inflationsrate in Deutschland kleiner ist als in Amerika (USA). Dies bedeutet, dass deutsche Waren (beispielsweise Autos) in Amerika vergleichsweise günstiger sind als amerikanische Waren. Dies hat zur Folge, dass die Exportmenge in Deutschland steigt und die Leistungsbilanz zunimmt, es werden also Exportüberschüsse erzielt. Um das Währungsrisiko zu minimieren, hat der deutsche Autohersteller seine Forderungen in der Währung Euro fakturiert. Also ist nun der amerikanische Kunde verpflichtet, die Rechnung in Euro zu bezahlen. Dazu benötigt er aber die Devise Euro, er muss sie gewissermaßen bei einer amerikanischen Bank kaufen. Also steigt in Amerika die Nachfrage nach Euros. Daraus folgt, dass der Wechselkurs US-$ / € steigt. Es findet also eine Aufwertung des Euros statt. Dies wiederum hat zur Folge, dass die Exportgüterpreise steigen. Der deutsche PKW wird in Amerika vergleichsweise wieder teurer und die Exportmenge sinkt unter der Voraussetzung, dass die Elastizität größer als 1 ist. Dies hat Einfluss auf den Wechselkurs, sodass sich der Markt ständig selbst reguliert. Durch diesen Mechanismus gleichen sich die Exportwerte den Importwerten an und es besteht eine Tendenz zum Gleichgewicht. Das bedeutet, dass die volkswirtschaftliche Leistungsbilanz langfristig ausgeglichen ist. Bei einem funktionierenden Markt sind Einfuhrbeschränkungen abzulehnen, weil die unsichtbare Hand dieses selber regelt. Außerdem profitieren nicht alle Länder gleichermaßen und definitionsgemäß von einer Abwertung der Währung. Wenn beispielsweise dadurch die Inflation stärker steigt als das Wirtschaftswachstum wird sich der vorteilhafte Effekt abschwächen bzw. ins Gegenteil verkehren.
Soviel zur Theorie, wie sieht nun die Praxis aus? Die Praxis ist viel komplexer und es müssen mindestens vier Sachverhalte (an dieser Stelle in Kurzform) untersucht werden.
- Viele Ökonomen übertragen den o.g. Sachverhalt auf alle Märkte. Dies ist aber nicht so einfach, weil nationale Märkte anderen Gesetzmäßigkeiten folgen. Außerdem gibt es keine diskriminierungsfreie Marktwirtschaft. Jegliche Güterzuteilung muss auf Diskriminierung basieren. In einer Marktwirtschaft wird die Güterzuteilung über den Preis geregelt. Wer den Preis nicht zahlen kann, wird vom Konsum ausgeschlossen, bzw. diskriminiert. Es ist ökonomisch zweifelhaft, wenn behauptet wird, alle können es schaffen, sie brauchen sich nur anzustrengen. Dies wird nie funktionieren; Gewinner kann es definitionsgemäß nur geben, wenn es auch Verlierer gibt. Adam Smith ging in seiner o.g. Theorie davon aus, dass es einen permanenten Wechsel zwischen Gewinnern und Verlierern gibt. Mal generiert das eine Land die Exportüberschüsse dann das andere Land. Tendenziell kommt also ein weltweites Gleichgewicht zustande.
- Durch die Agenda 2010 wurden in Deutschland die Hartz IV – Gesetze eingeführt und ein Niedriglohnsektor bildete sich heraus. Da Lohn- und Gehaltszahlungen Aufwendungen für die Unternehmen darstellen, konnten in der deutschen Volkswirtschaft die Kosten massiv gesenkt werden. Dies ist für die Exportwirtschaft positiv. Wenn dies alle Länder machen würden, wäre nicht nur der deutsche Vorteil weg, sondern die Lohndumping – Spirale würde sich noch schneller drehen.
- Die (leider) herrschende neoliberale Lehrmeinung ist tendenziell der Auffassung, dass das Stabilitätsgesetz der 1960 er Jahre nicht mehr zeitgemäß ist. Dieses Gesetz nennt vier wichtige volkswirtschaftliche Ziele: 1. Stabilität des Preisniveaus, 2. hoher Beschäftigungsgrad, 3. angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum und 4. außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Die Väter der Sozialen Marktwirtschaft wussten ganz genau, dass die Wirtschaft ein Gleichgewicht anstreben muss. Der Gleichgewichtsgedanke scheint in der neoliberalen Welt nicht zu existieren. Deshalb verwundert es nicht, wenn Sprüche wie „america first“ salonfähig werden. In Deutschland werden solche Sprüche zwar nicht artikuliert, in der neoliberalen Ökonomie wird aber so gedacht und gehandelt. Beispielsweise wird ein stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum abgelehnt, weil ein hohes Wachstum entscheidend ist. Auch stehen Neoliberale dem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht kritisch gegenüber, weil eher die Auffassung vertreten wird, dass hohe Exportüberschüsse positiv sind.
- In der Tat, die hohen Exportüberschüsse kann es Deutschland nur geben, weil der Niedriglohnsektor und der Euro eingeführt wurde. Nach Adam Smith pendeln sich weltweit die Märkte ein und die unsichtbare Hand funktioniert. Dies geht aber nur, wenn das exportstarke Land mit einer Aufwertung der Währung gewissermaßen „bestraft“ wird. Durch die Konstruktion der Währung Euro wird aber Deutschland kaum „bestraft“, weil alle europäischen Staaten mit der Aufwertung leben müssen. Deutschland ist der eindeutige Profiteur des Euros, Europa ist für Deutschland ein Geschenk. Wenn die D-Mark wieder eingeführt werden sollte, kämme eine derart starke Aufwertung dieser Währung in Gang, sodass vermutlich große Industriezweige bedroht werden und die Volkswirtschaft sich davon nicht erholen könnte.
Resümee
Die neoliberale Ökonomie hat es fertiggebracht, aus einer gleichgewichtigen Ökonomie keynesianischer Prägung einen Raubtierkapitalismus zu kreieren, der nach dem Motto „Nach uns die Sintflut“ agiert. Der Begriff der unsichtbaren Hand wird von neoliberalen Ökonomen auf sämtliche Märkte übertragen. Ob Adam Smith dem zustimmen würde, ist eine offene Frage. Flankierend dazu hat es die Politik geschafft, mit ihren Hartz-Gesetzen und der gesamten Agenda 2010 Deutschland in ein tief gespaltenes Land zu verwandeln. Trotz des Mindestlohns ist Deutschland an vielen Stellen ein Niedriglohnland.
Neoliberale Ökonomen halten nicht viel vom Gleichgewichtsgedanken, sondern stehen für die Universalprinzipien Egoismus, Konkurrenz und Eigennutz. Die Propagierung dieser Prinzipien macht Menschen egoistischer, andere Menschen werden zu Gegnern und „die Fremden“ zu Feinden. Der Markt lenkt mit seiner „unsichtbaren Hand“ und Begriffe wie Ethik und Moral oder auch „soziale Gerechtigkeit“ verlieren zunehmend ihre Bedeutung. Ich halte es für sehr fragwürdig, dass neoliberale Volkswirte den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft nutzen. Sie sollten fairerweise ihre Denkweise offenlegen und die von ihnen geprägte Wirtschaftsform korrekterweise Kapitalismus nennen.
Adam Smith und die Väter der Sozialen Marktwirtschaft würden sich die Augen reiben, wenn sie sehen könnten, was die neoliberalen Ökonomen und Politiker aus ihren Fundamenten, nämlich volkswirtschaftliches Gleichgewicht, „Wohlstand für alle“ und solidarische Gesellschaften, gemacht haben. Auch muss dringend darüber diskutiert werden, ob die Werte und Ziele des Neoliberalismus den Boden bereiten für den zunehmenden Nationalismus.