„Nichts darf je vergessen werden und nichts, was unvergessen ist, darf ungewandelt bleiben“.
 (Kracauer an Bloch, 1926).
 Der Geschichtsphilosoph und Journalist Siegfried Kracauer (1889-1966) meinte im Jahr 1927: „Die Fotografie erfasst das Gegebene als ein räumliches (oder zeitliches) Kontinuum, die Gedächtnisbilder bewahren es, insofern es etwas meint.“ Damit meinte Kracauer nicht die Billionen von Handyfotos. Die meisten dieser Fotos „meinen“ in der Regel gar nichts. Es wird das Essen fotografiert, Statusbilder werden jeden Tag neu veröffentlicht und Musikkonzerte werden nicht erlebt, sondern gefilmt. Damit ist ein Handyvideo bzw. -foto schon Erinnerung, obwohl das Event gerade stattfindet. Der Augenblick wird nicht mehr erlebt, sondern ist gleichzeitig schon Vergangenheit. Die Langsamkeit wird von der Beschleunigung verdrängt und Reichweiten werden nicht reduziert, sondern immer mehr erweitert. Durch die Digitalisierung wird die dezentrale und regionale Welt zunehmend verdrängt und die die Vernetzung führt dazu, dass die Informationen und Bilder des gesamten Planeten verfügbar sind.
Die Welt stellte sich vor der Digitalisierung vollkommen anders dar und wir beobachten heute einen technologischen Einbahnstraßeneffekt.  Kracauer lebte in einer Zeit, die ebenfalls von der Eindimensionalität geprägt war. Natürlich gab es in der Vergangenheit auch Denker, die nicht in geschlossenen Theorien gedacht haben. Weit vor Kracauer stellte beispielsweise Alexander von Humboldt die Mehrdimensionalität in den Mittelpunkt seiner Überlegung.
Das Internet vergisst nie
Alexander von Humboldt und Siegfried Kracauer waren ihrer jeweiligen Zeit weit voraus, weil sie differenzierte Perspektiven einnahmen, die vom mehrdimensionalen Denken geprägt waren. Kracauer schrieb im Jahre 1926 an Ernst Bloch: „Nichts darf je vergessen werden und nichts, was unvergessen ist, darf ungewandelt bleiben“. Schön, heute haben wir das Internet, dass nichts vergisst und jeder, noch so uninteressanter Moment, wird in den sogenannten sozialen Medien als Foto gepostet. Natürlich will die Fotografie, unter anderem, die Gegenwart dokumentieren. Dies wird durch die digitale Fotografie inflationär betrieben und somit wird die Dokumentation über wirklich wichtige Momente entwertet. Gerade in der heutigen Zeit, die geprägt ist von vielfältigen Krisen, sind die dazugehörigen Bilder sehr wichtig, um die Situationen besser zu verstehen. Um die Problemlagen möglichst differenziert einordnen zu können, müssen aussagekräftige Bilder erzeugt werden. Es gibt leider keine einfachen Bilder auf komplexe Problemlagen. Komplexität lässt sich eben nicht durch einfache Antworten darstellen. Auch wenn das Internet nicht vergisst, kann der Algorithmus „das Vergessen“ nicht ersetzen; denn die menschliche Erinnerung, die immer sozial geprägt ist, ist auch für die Identitätsbildung besonders wichtig. Die Fotografie verändert das Vergessen. „In dem wir etwas aufschreiben, indem wir etwas fotografieren, wollen wir es uns besonders merken, das heißt, was wir nicht aufschreiben und nicht fotografieren, geben wir auch eher dem Vergessen preis.“ (Kurt Wettengl) Es wird in wachsender Geschwindigkeit immer mehr geschrieben („gepostet“) und fotografiert ( „schnell gemachte“ Smartphone-Fotos).
„Soziologen stellen nun seit Längerem fest, dass genau dieses Identitätsbewusstsein des Menschen aufgrund der Beschleunigung, Flexibilisierung und Mobilisierung des Lebens immer brüchiger wird. Das vor allem durch die Ökonomie vorgegebene Lebenstempo zwingt, so die Diagnose, den Menschen immer mehr dazu, sich nicht zu sehr an Tätigkeiten, Berufe, Wohnorte und andere Menschen zu binden, ja sogar innere Einstellungen und letztlich auch den Charakter den Zwängen des Marktes anzupassen. Solche Menschen entwickeln, so Hartmut Rosa, eine »situative Identität«: Im Betrieb sehen sie sich ganz anders als zu Hause, zu Hause wiederum anders als im Sportverein usw. Nicht mehr ein personales Zentrum, sondern das jeweilige »Projekt« stiftet die Einheit im Alltag, die Menschen werden zu »Spielern«“[1]
Ursache und Wirkung
Häufig wird die Fotografie ebenfalls spielerisch begriffen, ähnlich wie im Kindergarten[2], der viele Fertigkeiten spielerisch vermittelt. Mit fortschreitendem Alter muss sich aber die Urteilskraft herausbilden. Dies wird aber mit zunehmender Digitalisierung problematisch, weil Ursache und Wirkung nicht mehr klar voneinander abgegrenzt werden können. In der analogen Fotografie muss vorher überlegt werden, welche Wirkung man erzielen möchte. Wie stelle ich die Blende ein, welche Verschlusszeiten sind zu wählen, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen? Dies stellt sich in der digitalen Fotografie zwar ähnlich dar, die Wiederholungsmöglichkeiten sind aber wesentlich höher, weil kein „begrenzter“ Film belichtet werden muss und die Speichermöglichkeiten gigantisch sind. Deshalb braucht man sich weniger Gedanken über die Ursache (Blende, Verschlusszeiten u.ä.) zu machen. In der Smartphone-Fotografie sind solche Ãœberlegungen ohnehin obsolet, weil das Smartphone die Steuerung übernimmt. Dies mag man als sehr praktisch empfinden, das Denken übernimmt hingegen das Smartphone. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass Kausalitäten häufig nicht mehr erkannt werden, denn Algorithmen können nur Korrelationen erkennen. Der Erkenntnisgewinn im Sinne von Ursache und Wirkung wird durch die Digitalisierung geschmälert. Die zu kommunizierenden Erkenntnisse werden nicht mehr vorhanden sein, wenn wir uns zukünftig auf Algorithmen basierte Lösungen verlassen. Wobei Lösungen auch immer kritisch hinterfragt werden müssen. Beispielsweise generieren sich viele Politikerinnen und Politiker gerne als Problemlöser. Dabei merken sie offensichtlich nicht, dass dieser Ansatz nicht zielführend ist. Der politische Diskurs lässt sich nicht mathematisieren und durch einen Algorithmus darstellen, so nach dem Motto: hier das Problem, da die Lösung. Politisches Denken und Handeln muss immer prozessorientiert sein, denn Probleme sind in der Regel nicht eindimensional und es gibt immer mehrere vernünftige und unvernünftige Lösungen.
Noch bevor Adorno und Horkheimer ihre Dialektik der Aufklärung formulierten, stellte der Journalist und Filmtheoretiker Kracauer in seinem Werk Ornament der Masse heraus, dass die moderne Technologie, sofern sie als Produkt der Aufklärung gedeutet wird, nicht automatisch mit der Vernunft gekoppelt ist. Deshalb ist es auch nicht unvernünftig, sich der analogen Fotografie zu widmen. Die analoge Schwarzweißfotografie nimmt einen immer größer werdenden Raum ein und beschäftigt mich zunehmend, weil sie in ihrem Wesen die Reduzierung[3] darstellt. Man beschränkt sich auf Schwarz-, Weiß und Grautöne. Fachleute meinen, ein gutes Schwarzweißfoto kann sogar völlig auf Grauwerte verzichten. Dies mag richtig sein, wenn man eine bestimmte grafische Wirkung erzielen möchte. Für mich persönlich sind die Grauwerte aber sehr wichtig. Natürlich ist das facettenreiche Grau gemeint, dass die Differenziertheit widerspiegelt.
[1] Fritz Reheis, Wo Marx Recht hat, Darmstadt, 2011, S. 173
[2] Man kann nur hoffen, dass die Digitalisierung die zukünftigen Schülerinnen und Schüler aber auch die Lehrerinnen und Lehrer nicht zu Spielern werden lässt und der Unterricht zukünftig nicht, wie im Kindergarten, spielerisch stattfindet.
[3] Gerade in der heutigen Zeit wird viel zu wenig über Reduzierung und Verzicht diskutiert.