Der tendenzielle (Ver-)Fall des Bildungsniveaus

27. Dezember 2019

Das Land der Dichter und Denker droht zum Staat der Stifter und Schenker zu werden.

Tim Engartner

Die Kultusminister haben eine Digitalisierungsoffensive gestartet, damit soll die Medienkompetenzen gestärkt werden. Unternehmen wie apple, facebook, twitter und Co. ziehen zukünftig in die Klassenzimmer ein. Diese Maßnahmen sollen uns bildungspolitisch in das digitale Zeitalter katapultieren und Schülerinnen und Schüler werden, so die Hoffnung, mit weiteren Kompetenzen ausgestattet. Werden nun Probleme gelöst oder werden neue Probleme geschaffen?

Was sind überhaupt „Kompetenzen“?

Für die ökonomische Bildung gilt, dass die Schul- und teilweise auch Studienbücher sukzessive die Inhalte der neoliberalen Ökonomie übernehmen, Kritik wird nicht geübt und andere wirtschaftswissenschaftliche Zusammenhänge werden verdrängt bzw. nicht mehr unterrichtet. Heute findet nicht nur der ökonomische Unterricht kompetenzorientiert statt. Im gesamten Fächerkanon ist der Bestand von Kenntnissen und verbindlichen Texten gefährdet, weil die Vermittlung von Kompetenzen im Vordergrund steht. Obwohl der Begriff „kompetenzorientiert“ in den Lehrplänen inflationsartig benutzt wird, bleibt er undeutlich. Der Psychologe Franz E. Weinert erläuterte im Jahre 2001 in einem Gutachten für die OECD den Begriff; demnach versteht er unter Kompetenzen «die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können».[1] Kompetenzen sind, verkürzt formuliert, die Verschmelzung von Wissen und Können. Durch den Begriff „Handlungskompetenz“ wurde der Begriff noch weiter überhöht und kritische Bezüge wurden reduziert.[2]  Dies verwundert auch nicht, denn „kompetente“ Manager nutzen häufig den Begriff der „Kompetenz“ bzw. der „Inkompetenz“ und sie kritisieren  selten ökonomische Systeme und setzen sich unzureichend mit ökologischen Fragen auseinander.

In der ersten Pisa-Studie wurde festgestellt, dass die finnischen Schülerinnen und Schüler gut lesen, schreiben und rechnen können. In Deutschland werden diese Begriffe bildungspolitisch aufgebläht und mit Kompetenzen versehen. Semantisch verdoppelt man zwar die Begrifflichkeiten, indem Lesekompetenzen, Schreibkompetenzen, Rechenkompetenzen und zukünftig auch digitalen Kompetenzen eingefordert werden; trotzdem können deutsche Schülerinnen und Schüler mit zunehmender Digitalisierung immer weniger lesen, schreiben und rechnen, denn unter Kompetenzen wird häufig nur anwendungsorientiertes Verfahrenswissen verstanden. Über digitale Endgeräte werden substituierbare Textstücke und „Medienhäppchen“ (Ralf Klausnitzer) an die Schülerinnen und Schüler verteilt. Somit wird das Lernen suggeriert ohne sich mit realen Inhalten zu beschäftigen und vor allem nicht mit der kritischen Reflexion. Wie soll auch ein kritischer Umgang mit Lehr- und Lerninhalten erfolgen, wenn uns ein digitaler, bunter Setzkasten Texte, Bilder und andere Inhalte aus dem Internet bereitstellt.

Bringt die Digitalisierung die Rettung?

Die geforderte Digitalisierung der Schulen und Hochschulen führt dazu, alles zu wissen, aber nichts zu verstehen. Komplexe Zusammenhänge werden reduziert und eine vertiefte, kritische Auseinandersetzung wird zunehmend als lästig empfunden. Um Zusammenhänge in ihrer Gesamtheit und Ganzheit zu erfassen, benötigt man viel Zeit und natürlich die volle Aufmerksamkeit, denn Inhalte muss man verstehen, und dafür gibt es keine individuellen  Rezepte im Internet. Die digitale Welt kann nur Informationen zur Verfügung stellen. Bildung ist aber nicht nur Informationsvermittlung, sondern sie ist ein zeitintensiver Vorgang. „Wird Bildung jedoch nicht mehr als zeitintensiver und aufmerksamkeitsfordernder Prozess der Aneignung kultureller Ãœberlieferungen verstanden, sondern als Informationsvermittlung und Methodentraining in fixierter Zeit, sind PISA-getrimmte Lehrpläne und Download-Wissen an Schulen ein ebenso unvermeidbares Ergebnis wie modularisierte Studiengänge mit Credit Points, Workload und Content-Management-Systemen an Universitäten.“[3]  Das modulare Lernen führt dazu. den Schülerinnen und Schülern „möglichst keinen Spielraum für Freiheitsphantasien  in der eigensinnigen Zusammensetzung von Lerngegenständen zu lassen.“ [4] Die Ökonomisierung der Bildung an Schulen und Hochschulen schreitet voran, denn Zeit ist Geld.  Die Auseinandersetzungen mit Inhalten werden verdrängt durch den Akt des Erwerbens: „Leistung gegen Guthaben“ (Johannes Berning).

Gebrauchswert vs. Tauschwert

Wettbewerb um Leistungsnachweise, Aneignung und Speicherung von Wissen haben immer weniger mit Bildung zu tun. Mit der Hervorhebung des ökonomischen Imperativs der Leistung und der Gegenleistung laufen wir Gefahr, dass Bildung zu einer beliebigen Ware verkommt, die einen Tauschwert hat, der sich aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage am Markt ergibt. Bildung wird glücklicherweise nicht am Markt gehandelt, sie hat auch keinen Tauschwert; Bildung hat natürlich einen Gebrauchswert. In der Ökonomie  impliziert dieser Wert die Nützlichkeit einer „Ware“. Der Gebrauchswert hängt untrennbar mit den sachlichen Eigenschaften der Ware wie Größe, Material und Verarbeitungsqualität zusammen. Nun ist Bildung natürlich auch keine Ware, trotzdem hat sie einen Gebrauchswert, der sich aus den Bildungsinhalten ergibt. Für die didaktische Analyse stellte der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki fünf bzw. sechs didaktische Grundfragen, die sich ausnahmslos mit dem Inhalt beschäftigen, denn die grundlegende Bildung soll zum Welt-und Selbstverständnis beitragen.  In der Didaktik werden eben nicht beliebige Unterrichtsgegenstände ausgewählt, sondern Inhalte, die ihren „exemplarischen Bildungsgehalt erst noch zu beweisen haben“ (Johannes Berning).

Fazit

Die Digitalisierung wird sich nachhaltig auf die Sprache, auf die Kultur und auf die Bildung auswirken. Nach der Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann sind die sozialen Systeme (der Digitalisierung [5]) autopoietisch und selbstreferentiell. Somit lassen sie sich kaum abschaffen und es besteht die Gefahr, dass diese maschinengesteuerte Zukunft uns eine inhaltsleere, für autoritäre Ideologien anfällige, Gesellschaft bescheren wird. Gerade das Streiten um Inhalte ist in einer Demokratie so wichtig. Außerdem muss die kritische Urteilskraft ständig „wachgehalten“ werden, damit die Streit- und Diskussionskultur nicht auf ein digitales (Bildungs-) Niveau herabsinkt. Deshalb ist es umso bedenkenswerter, wenn komplexe Inhalte aus dem Bildungskanon verschwinden und der Bildungssetzkasten des Internets das Denken verdrängt.

[1] Weinert, F.E. (Hrsg.), Leistungsmessung in Schulen. Weinheim, 2001, S. 27 ff.

[2] Auf einer ökonomischen Fortbildung hörte ich von jungen Lehrerinnen und Lehrern, dass an den Hochschulen die neoliberale Ökonomie kritiklos gelehrt und gelernt wird.

[3] Ralf Klausnitzer, Was bleibt, ist Ungleichheit, in: Der Freitag, Nr. 48, 28.11.2019, S. 6

[4] Oskar Negt, Der politische Mensch, Göttingen, 2011, S. 213

[5] Anmerkung meinerseits. Als Niklas Luhmann im Jahre 1998 starb, war die Digitalisierung in der Gesellschaft (und auch in der Schule) noch nicht so präsent und ausgeprägt.

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