„Erst wenn das Hochwasser abläuft, sieht man, wer nackt gebadet hat.“
Warren Buffet
Der Ausspruch des amerikanischen Großinvestors Warren Buffet bezieht sich auf die Ebbe, die die Schwachstellen und Ungleichheiten unserer Wirtschaftsordnung bloßlegt. Gegenwärtig werden die ökonomischen Schwächen und die Unvollkommenheit der Märkte durch die Covid-19-Pandemie aufgezeigt. Nach der ökonomischen Logik werden die Börsen als (nahezu) vollkommene Märkte bezeichnet, die sich durch folgende Bedingungen auszeichnen: Es werden homogene Güter gehandelt, es bestehen weder persönliche noch räumliche Präferenzen und eine vollständige Markttransparenz wird ebenfalls unterstellt. Diese modelltheoretischen Unterstellungen wurden schon seit jeher kritisiert und als unrealistisch eingestuft. Inzwischen hat sich die Börse aber von der ökonomischen Realität noch weiter entfernt. Seit einigen Wochen werden wieder Aktienrekorde vermeldet und die „Börse vor acht“ im Ersten Deutschen Fernsehen hat auch schon eine Erklärung parat – die Märkte erholen sich von der Corona-Krise. Merkwürdigerweise erfährt man 10 Minuten später in der Tagesschau, dass sich die Wirtschaftsleistung im Sinkflug befindet und bestimmte Märkte und Branchen voraussichtlich massive Probleme bekommen werden. Die Arbeitslosenquote nimmt zu und das Bruttoinlandprodukt (BIP) wird vermutlich um 5 – 10 Prozent geringer ausfallen. Die Schätzungen der Wirtschaftsinstitute gehen weit auseinander, weil verschiedene Corona-Szenarien unterstellt werden. Sowohl die Börsenkurse als auch das BIP gelten als (gleichlaufende?) Konjunkturindikatoren, die scheinbar wenig miteinander zu tun haben.
Börsenkurse vs. BIP
Warum steigen die Börsenkurse und das BIP nimmt dramatisch ab? Offensichtlich spiegeln die Börsenkurse nicht die ökonomischen Realitäten wider. Die Aktienhändler werden sich bei ihren Prognosen nicht am BIP orientieren, sondern die Erwartungen anderer (spekulierender) Aktienhändler sind maßgeblich. Der Aktienhändler wird sich auf die ökonomischen Deutungen der Mehrzahl der Aktienhändler verlassen. Die Spekulation orientiert sich somit nicht an Fundamentaldaten (z.B. das BIP), sondern auf eine Wette auf die zukünftige ökonomische Entwicklung.
Die Sichtweise des John Maynard Keynes
Der Ökonom John M. Keynes war skeptisch gegenüber solchen Vorhersagen und er brachte den Begriff der Ergodizität in den wissenschaftlichen Diskurs. „Worum geht es bei der Frage der Ergodizität? Wenn man sich vorstellt, der Weg eines Wirtschaftssystems auf der Zeitachse Richtung Zukunft werde von einem „stochastischen Prozess“ bestimmt, wie die Statistiker sagen, so lässt sich für die zukünftigen Folgen zu jeder in der Gegenwart getroffenen Entscheidungen eine Wahrscheinlichkeitsverteilung angeben. Will man beim Fällen einer Entscheidung zu den wirtschaftlichen Auswirkungen in der Zukunft eine einigermaßen seriöse statistische Vorhersage machen, so müsste man logisch gesprochen stichprobenartig Daten aus der Zukunft erheben und auswerten, um die zukünftige Entwicklung des Marktes abzuschätzen. Da es nun aber unmöglich ist, Daten über die Zukunft zu erheben, gehen Ökonomen von der Annahme aus, die wirtschaftliche Entwicklung werde von einem ergodischen stochastischen Prozess bestimmt, so dass in der Vergangenheit und Gegenwart gewonnene Stichproben äquivalent zu einer Stichprobe aus der Zukunft sind. Das Axiom der Ergodiziät geht mit anderen Worten davon aus, dass die zukünftige Marktentwicklung ein „statistischer Schatten“ der in Vergangenheit und Gegenwart erhobenen Marktdaten ist.“[1]
Die Spekulationssituation zwischen den Aktienhändlern an den Börsen hat Keynes mit einem Schönheitswettbewerb verglichen. Es geht bei diesem Wettbewerb nicht darum, „jene auszuwählen, die nach dem eigenen Urteil wirklich die hübschesten sind, ja sogar nicht einmal jene, welche die durchschnittliche Meinung wirklich als die hübscheste betrachtet. Wir haben den dritten Grad erreicht, wo wir unsere Intelligenz der Vorwegnahme dessen widmen, was die durchschnittliche Meinung als das Ergebnis der durchschnittlichen Meinung erwartet.“ Es kommt also nur darauf an, der Erste zu sein. Und zwar der Erste, der auf den gnadenlosen Verwertungsimperativ der Ökonomie setzt und zukünftige Trends erkennt. Das bedeutet, die Börse reflektiert nicht die gegenwärtige ökonomische Situation, sondern die prognostizierten kommenden Kursgewinne, obwohl es der gegenwärtigen Wirtschaft schlecht geht und kein Mensch verlässliche Aussagen über die Entwicklung der Corona-Pandemie treffen kann. Die gegenwärtigen Börsenkurse reflektieren weder die gegenwärtige noch die zukünftige Wirtschaftsleistung. Es handelt sich hier um reine „Kaffeesatzleserei“. Außerdem führt dieses spekulative Gewinnstreben letztendlich nur dazu, dass die nächste Blase beziehungsweise Krise aufgepumpt wird.
Die dominante Finanzwirtschaft
Die Finanzwirtschaft hat sich in den letzten Jahren zunehmend von der Realwirtschaft entfernt. Inzwischen werden große Teile des Bruttoinlandsproduktes in der spekulativen Finanzwirtschaft erzielt. Die Finanzakteure beherrschen 80 Prozent der Weltökonomie und entziehen sich zunehmend der regulierten Kontrolle. „Nach Angaben der Deutschen Bundesbank haben sich die weltweit erfassten Kapitalströme zwischen 1975 und 2000 verdreißigfacht, während sich das Welthandelsvolumen ungefähr vervierfacht und das addierte Bruttoinlandsprodukt (BIP) verdoppelt haben.“[2] Der Zynismus wird in der Corona-Krise besonders deutlich – an den Börsen werden satte Gewinne eingefahren, während Handwerks- und Industriebetriebe teilweise vor dem Aus stehen – denn das ablaufende Hochwasser offenbart die Realitäten.
[1] Paul Davidson, John Maynard Keynes, Berlin, 2015, S. 43
[2] https://agora42.de/schwaenze-die-mit-hunden-wackeln-oder-warum-die-finanzwirtschaft-wichtiger-ist-als-alles-andere/, aufgerufen am 01.07.2018