Kapitalismuskritik und die Documenta fifteen

24. Juli 2022

»Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.» (Ludwig Wittgenstein)

Ein Rückblick

Im Jahre 1977 nahm ich die Documenta erstmalig wahr. Diese Documenta 6 habe ich intensiv im Fernsehen verfolgt. Es wurde damals sehr häufig über diese Weltkunstausstellung berichtet und die ARD bzw. das ZDF haben mich somit für zeitgenössische Kunst begeistert. Der Begründer der Videokunst, Nam June Paik, hat mir im ZDF seinen Kunstbegriff erklärt. Kurzum – ich war fasziniert von der Documenta 6. Mein erster Documenta-Besuch war im Jahre 1982, das war die Documenta 7. In den nächsten 40 Jahren habe ich keine einzige Documenta verpasst. Die Documenta 11 im Jahre 2002 war eine besondere, denn erstmalig kam der künstlerische Leiter nicht von der Nordhalbkugel der Erde; es war Okwui Enwezor aus Calabar, Nigeria. Endlich wurden die südlichen Länder der Erdhalbkugel wahrgenommen. Die Documenta 12 (Roger M. Buergel), 13 (Carolyn Christov-Bakargiev) und 14 (Adam Szymczyk) wurden wieder von Vertretern der Nordhalbkugel der Erde geleitet. Doch dann kam tatsächlich die Sensation, das Künstlerkollektiv ruangrupa sollte die diesjährige Documenta fifteen kuragieren.

Welch eine Wohltat – die Documenta fifteen

Als ich im Jahre 1977 meine erste Documenta im Fernsehen verfolgte, deutete es sich mit dem Medien- und Videokünstler Nam June Paik an, dass die Kunst sich zunehmend digitalisieren wird. Dies wurde durch die nachfolgenden Weltkunstausstellungen bestätigt. Welch eine Wohltat – die Documenta fifteen ist weitgehend analog und sie rüttelt das Weltbild durcheinander, weil hier lumbung praktiziert wird. Als das indonesische Kuratorenteam ruangrupa sich für Künstlerkollektive aus aller Welt entschied und den großen Namen der Kunstszene eine Absage erteilte, lernten die Kunstschaffenden das indonesische Wort lumbung kennen. In Indonesien wird eine Reisscheune als lumbung bezeichnet. Es handelt sich aber um eine spezielle Scheune, weil sie gemeinschaftlich genutzt und die überschüssige Ernte zum Wohle der Gemeinschaft gelagert wird. Die längst überfällige Kapitalismuskritik schien mit dieser Documenta endlich in Reichweite.

Die Krise

Es kam aber anders. Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth forderte, dass der Bund wieder mehr Einfluss auf die Kunst nehmen sollte. Auslöser war die Arbeit „People´s Justice“ des Künstlerkollektivs Taring Padi auf der Documenta fifteen. Das Kollektiv hat, wegen einer antisemitischen Bildsprache, für große Empörung gesorgt. Die Empörung ist berechtigt, Antisemitismus hat auf der Documenta, und im gesamten Kulturbereich, nichts zu suchen. Der Staat bzw. die Kulturstaatsministerin darf aber in ihrer Einflussnahme die Grenze zur Zensur ebenfalls nicht übertreten und eine Auseinandersetzung mit dem Monumentalbild der Gruppe Taring Padi muss trotz alledem erfolgen. Die Künstlergruppe wollte nur die globalen Ausbeutungsverhältnisse anprangern. Und das ist deshalb notwendig, weil der globale Norden den globalen Süden in vielerlei Hinsicht ausbeutet. Und dies ist nicht nur in der Klimadebatte zu beobachten. Der globale Norden kooperiert auch gerne mit diktatorischen Regimen aus dem Kongo, aus Nigeria und auch, wie die Vergangenheit zeigte, mit dem brutalen indonesischen Diktator General Suharto. Haji Mohamed Suharto führte In Indonesien  30 Jahre eine brutale Diktatur, die erst im Jahre 1998 endete. Suharto annektierte den westlichen Teil der Insel Neuguinea. Die Volksgruppe der Papua wurde gewaltsam umgesiedelt und viele Bewohnerinnen und Bewohner wurden ermordet. Da der Konflikt bis heute andauert schrieb das Magazin Welt-Sichten im Mai: „Da das Gebiet reich an Rohstoffen wie Gold, Kupfer, Nickel, Erdgas und Tropenholz ist, befeuern die Interessen internationaler Bergbauunternehmen und Holzhändler den Konflikt zusätzlich.“ Die Gruppe Taring Padi wollte unter anderem auf diesen Konflikt aufmerksam machen und eine Auseinandersetzung mit dem noch immer existierenden Kolonialismus anstoßen. Dies scheint auch dringend erforderlich. Leider war die Bildsprache in einem Teilbereich des Bildes klar antisemitisch. Dies ist natürlich nicht zu rechtfertigen. Deshalb darf aber nicht die gesamte Documenta unter Generalverdacht gestellt werden. Außerdem hat die westliche Welt keine Probleme damit, den Propheten der Muslime als Bombenleger darzustellen. Dies ist durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Ist das angemessen oder wird hier eine sehr vereinfachte Logik verfolgt?

Brownie

Die von Roger M. Buergel kuragierte Documenta 12 im Jahre 2007 zeigte glücklicherweise viele Künstler aus Afrika, dem Nahen Osten und aus Asien. Unter anderem wurde Brownie, die ausgestopfte Giraffe, präsentiert. Der aus Südafrika stammende Giraffenbulle Brownie war seit 1997 im Zoo von Qalqiliya beheimatet. Diese palästinensische Stadt liegt an der sogenannten grünen Linie, also der Waffenstillstandslinie von Israel. Qalqiliya befindet sich rechtlich in der sogenannten Zone A, die ausschließlich der Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde unterliegt. Dies ist im Oslo-II-Abkommen von 1995 geregelt worden. Trotzdem rückt Israel aber immer wieder in die Stadt ein. Der Zoo von Qalqiliya ist der einzige im Westjordanland und für die dort lebenden Kinder eine willkommene Abwechslung. Am 19. August 2002 schlugen, im Rahmen einer israelischen Militäroperation, Bomben im Zoo ein und die Giraffe stürzte zu Boden und verendete qualvoll. Der Tierarzt des Zoos stopfte das Tier notdürftig aus und Brownie wurde auf der Documenta 12 ausgestellt.

Brownie, der den „Charme eines vielgeliebten Steiff-Tieres“ (Roger M. Buergel) verströmte, hatte es geschafft, die israelischen Militäroperationen in Frage zu stellen. Und das ist gut so. Kunst muss auch gesellschaftliche Missstände aufdecken. Leider betrachtet die Mainstream-Berichterstattung nur einen kleinen Teilbereich des Werkes von Taring Padi. „Das womöglich Schlimmste an dem Vorgang besteht darin, dass der Nord-Süd-Austausch über die offensichtlich eklatanten Unterschiede in den kollektiven Erinnerungen, in den Täter- und Opfer – Erzählungen unterschiedlicher Kulturen in Nord und Süd durch die simple Schwarz-Weiß-Logik der Debatte nahezu unmöglich gemacht wird.“[1]

Vielleicht ist es auch so gewollt, weil die Probleme der Erde auf die Corona-Krise und den Ukraine-Krieg reduziert und keineswegs auf den Kapitalismus und den Kolonialismus zurückgeführt werden.

[1] Stephan Hebel, Kassel, Kinshasa, Jakarta, in: Der Freitag, Nr. 27 vom 07. Juli 2022, S. 14

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