Gramsci, Beuys, Ruangrupa und die Documenta

30. Juni 2022

„Wir müssen uns abgewöhnen und aufhören, die Kultur als enzyklopädisches Wissen zu verstehen, wobei der Mensch nur als ein Gefäß gesehen wird, das mit empirischen Daten angefüllt und vollgepfropft werden muss, mit nackten und zusammenhanglosen Fakten, die er dann in seinem Gehirn wie in den Abschnitten eines Wörterbuchs rubrizieren muss […]. Wirkliche Kultur ist etwas völlig anderes. Kultur ist Disziplinierung des eigenen inneren Ichs, Inbesitznahme der eigenen Persönlichkeit und die Erlangung eines höheren Bewusstseins, mit dem man dazu kommt, den eigenen historischen Wert zu verstehen, die eigene Funktion im Leben, die eigenen Rechte und Pflichten.“

(Antonio Gramsci, Grido del popolo vom 29. Januar 1916)

 

Ich bin nicht bei Instagram, wenn überhaupt, dann bin ich eher beim analogen (Antonio) Instagramsci. Wo bleibt das, von Antonio Gramsci geforderte, dialektische Denken? Berühmt geworden ist seine Überzeugung, dass alle Menschen Intellektuelle seien. Joseph Beuys behauptete: „Jeder Mensch ist ein Künstler“ und meinte damit, dass jeder Mensch ein soziales Wesen sei und dass die schöpferische Kraft bewirke, dass er sich selbst und die Welt verändern kann. Gramsci und Beuys sind schon lange tot, trotzdem passen diese Aussagen gut in die Gegenwart. Heute produzieren die Messenger-Dienste des Internets jeden Tag eine Flut von Fake-News, Meinungen und einfallsloses Wissen. Der Mensch als soziales Wesen, der schöpferische und intellektuelle Kräfte besitzt, wird durch die Digitalisierung zunehmend in Frage gestellt. Der sogenannte Faktenckeck dominiert die Debatte und Zusammenhänge finden kaum noch Berücksichtigung.

Die geforderte Digitalisierung der Schulen und Hochschulen führt dazu, alles zu wissen, aber nichts zu verstehen. Instagram, Facebook und Co. sorgen dafür, dass komplexe Zusammenhänge reduziert werden und eine vertiefte, kritische Auseinandersetzung wird zunehmend als lästig empfunden. Das modulare Lernen führt dazu, den Schülerinnen und Schülern “möglichst keinen Spielraum für Freiheitsphantasien in der eigensinnigen Zusammensetzung von Lerngegenständen zu lassen.”[1]

Wissen und Vergessen

Dabei ist es gerade in der heutigen Zeit so wichtig, sich die Freiheit zu nehmen, dass Wissen auch einmal zur Seite zu schieben, sich auf die Bildung zu besinnen und sich auf die Kultur einzulassen. Auch wenn man mit dem Kulturbegriff eines Antonio Gramsci nichts am Hut hat, sollte man auch einmal sein Wissen vergessen und Thomas Wagner beherzigen: „Kunst ist eine Form der Erinnerung, die uns hilft, unser Wissen zu vergessen. Sie lockt uns in Bezirke, in denen wir uns nicht auskennen und lässt uns eintauchen in herausgehobene Areale des Realen, das uns für gewöhnlich einhüllt wie ein dichter Wald, in dem wir keinen Horizont sehen.“ (Thomas Wagner, 2009)

Dies führt dann zu neuen Erkenntnissen und ungeahnte Zusammenhänge tun sich auf. Das ist gut so. Jeder hat seine Meinung, das ist nicht schwer. In einer Social-Media-dominierten Gesellschaft gibt es aber ein Zuviel an Meinungen. Gerade in der heutigen Zeit ist sowohl im Politischen als auch im Medialen der Standpunkt alles und die Erkenntnis nichts. Standpunkte werden als Erkenntnisse ausgegeben, dabei müsste es doch genau umgekehrt sein. Dies gilt vor allem Im Politischen. Deshalb sind die Sozialen Medien nicht förderlich für den Diskurs, weil politisches Denken und das Denken über Politik gleichgesetzt werden und das hat fatale Folgen für die Diskussionskultur im Internet, die von Werturteilen nur so strotzt. „Als machten die Urteile das Weltbild und nicht umgekehrt.“ (Felix Bartels) Dabei besteht die Kunst doch gerade darin, Meinungen zurückzuhalten, sie noch einmal zu überdenken und vor allem andere Meinungen zu ertragen.

Apropos Kunst – die Kulturstaatsministerin Claudia Roth fordert, dass der Bund wieder mehr Einfluss auf die Kunst nehmen sollte. Auslöser war die Arbeit „People´s Justiz“ des Künstlerkollektivs Taring Padi auf der Documenta fifteen. Das Kollektiv hat, wegen einer antisemitischen Bildsprache, für große Empörung gesorgt. Die Empörung ist berechtigt, Antisemitismus hat auf der Documenta, und im gesamten Kulturbereich, nichts zu suchen. Es ist aber sehr bedauernswert, dass diese wichtige und zeitgemäße Documenta sowohl von den Medien als auch von der Politik auf dieses eine abscheuliche Kunstwerk reduziert wird. Zumal die Ausstellungsmacher dieses Bild entfernt haben. Trotzdem wird die Documenta auf dieses eine Bild reduziert und alle anderen Kunstwerke werden unter Generalverdacht gestellt. Dabei bietet gerade diese Documenta eine kritische Reflektion auf die Weltlage und auch brauchbare Lösungsansätze für die kommenden Krisen an. Umso unverständlicher, dass der Bundeskanzler Scholz seinen geplanten Besuch in Kassel abgesagt hat. Auch muss dringend die zweifelhafte Aussage von Claudia Roth, bezüglich der Einflussnahme des Staates auf die Kunst, diskutiert werden; denn es darf nie wieder staatsgelenkte Kunst geben.

Für mich ist diese Kunstschau ein Rettungsanker, weil die diesjährige, weitgehend analoge, Documenta fifteen das Weltbild durcheinander rütteln wird, wenn die Künstlerinnen und Künstler gemeinsam lumbung praktizieren. Als das indonesische Kuratorenteam Ruangrupa sich für Künstlerkollektive aus aller Welt entschied und den großen Namen der Kunstszene eine Absage erteilte, lernten die Kunstschaffenden das indonesische Wort lumbung kennen. In Indonesien wird eine Reisscheune als lumbung bezeichnet. Es handelt sich aber um eine spezielle Scheune, weil sie gemeinschaftlich genutzt und die überschüssige Ernte zum Wohle der Gemeinschaft gelagert wird. Lumbung würde Antonio Gramsci (und vielleicht auch Antonio Instagramsci) gefallen.

[1] Oskar Negt, Der politische Mensch, Göttingen, 2011, S. 213

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