Wie euch die Kugeln um die Ohren pfeifen werden. (Ernst Bloch)

06. Juni 2024

»Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.« (Antonio Gramsci)

Ob Gramsci die richtige Ausdrucksweise gewählt hat, darüber lässt sich streiten. Die Aussage, Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens, halte ich für wesentlich, weil werturteilsfreie Diskussionen und selbstkritische Reflexionen im öffentlichen Diskurs Mangelware geworden sind. Während meines Studiums habe ich damals ein Referat über den Werturteilsstreit gehalten. Die kritischen Analysen der damaligen Zeit sind gewichen und heute spielen Werturteile und Meinungen eine gewichtige Rolle. Das Interesse an politischen und gesellschaftlichen Analysen hat sich pulverisiert und die Debattenkultur ist zu einer öffentlichen Streiterei, die scheinbar nur zwei Lager kennt, verkommen. Die Grautöne verschwinden zunehmend und Ernst Bloch ist aktueller denn je:

Aber es gibt zweierlei Pack:

Das oben, kaum am Leben, plärrend schon,

doch verdörrt und verdustert.

Leer wie ein ausgetrunkener Weinschlauch.

Und dann das andere:

Das von unten, dreckig gewiß, aber wie!

Offenherzig, aber auch lauernd:

Will zugreifen.

Trockenes Pack:

Wie euch die Kugeln

um die Ohren pfeifen werden.

                                       Ernst Bloch (1885 – 1977)

Bloch beschreibt die beiden Lager, die sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen, sich offensichtlich nichts zu sagen haben und sich kriegerisch begegnen. Der Soziologieprofessor Steffen Mau spricht in seinem Buch Triggerpunkte von Kamelgesellschaften: zwei steil aufragende Höcker, dazwischen ein trennendes Tal unüberbrückbare Unterschiede. Dabei ist es höchste Zeit, die Trennung von Gut und Böse aufzugeben und wertfreie Analysen zuzulassen, um dann sachgerechte Beurteilungen in den demokratischen Diskurs einzubringen. Gegenwärtig ist die Kommunikation mehr als mangelhaft und die Debattenkultur ist verseucht mit Werturteilen und Fake-News. Inhaltliche Beurteilungen sind nicht mehr so erwünscht. Was machte den damaligen Werturteilsstreit so besonders und warum muss er heute, mehr denn je, Beachtung finden?

Der Werturteilsstreit

Ein kurzer Blick in die Geschichte: Vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Streit zwischen Mitgliedern des Vereins für Socialpolitik geführt. Die damaligen Hauptkontrahenten waren Max Weber, Werner Sombart und Gustav Schmoller. Bei dem Streit ging es vor allem um die Frage, ob die Sozialwissenschaften normativ verbindliche Aussagen, über die von der Politik zu ergreifenden Maßnahmen treffen sollen. Darf die Wissenschaft beurteilen, ob politische Handlungen gerechtfertigt sind oder nicht? Es ging also im Wesentlichen um die ethische Grundfrage, ob sich objektive Wissenschaft mit wertenden Betrachtungen beschäftigen sollte. Der Werturteilsstreit flammte in den 1960er-Jahren nochmal auf und wurde als Positivismusstreit bekannt. Die Debatte wurde zwischen den Vertretern der Kritischen Theorie und des Kritischen Rationalismus geführt. Zweifelsohne spielen Werte in der Wissenschaft eine bedeutende Rolle. Bereits bei der Auswahl des Forschungsgegenstandes findet eine Bewertung statt. Insofern kann es keine »wertfreie« Wissenschaft geben. Dies muss aber nicht stimmen. In jedem Fall lässt es sich vortrefflich darüber streiten, ob es eine wertfreie Wissenschaft gibt oder geben sollte.

Zurück in die Gegenwart

Solche Debatten werden heute kaum noch geführt, weil begründete Werturteile und Meinungen verdrängt werden durch Empörungen. Emotionen und Entrüstungen im Bildzeitungsstil. Aber nicht nur die Bildzeitung bedient sich solcher Praktiken, sie sind inzwischen in vielen anderen Medien angekommen. Selbst vormals seriöse Zeitungen springen auf diesen Zug, der in den sogenannten Sozialen Medien normal ist, auf. Schließlich geht es mehr um die Verkaufszahlen und Klickzahlen als um eine ausgewogene, kritische und analytische Berichterstattung. Nur durch eine wertfreie Analyse lässt sich der Kern des jeweiligen Problems freilegen. Derartige Analysen werden aber häufig durch die Anrufung des gesunden Menschenverstandes überlagert und moralische Fragen respektive normative Forderungen dominieren dann den Diskurs. »Wie viele aktuelle Beispiele zeigen, sind auch Demokratien nicht davor gefeit, dass sich unversöhnliche Haltungen herausbilden, die das politische System insgesamt destabilisieren können. Tendenzen der Radikalisierung, des Denkens in Freund-Feind-Schemata und die Entzivilisierung der Konfliktaustragung sind hierbei wesentliche Zutaten, die es immer schwerer machen, Auseinandersetzungen einzuhegen.«[1] Wie euch die Kugeln um die Ohren pfeifen werden. Erleben wir gegenwärtig einen Rückfall in die Inhumanität?

Übrigens: Das Foto zu diesem Artikel habe ich in Italien (Heimatland von Antonio Gramsci) aufgenommen und es zeigt scheinbar zwei gegensätzliche Weltanschauungen. Auch hier sind keine Grautöne vorhanden.


[1] Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westerheuser, Triggerpunkte, Berlin, 7.Auflage, 2024, S. 407.

Weitere Artikel