»Die Welt haben wir nicht nur gemeinsam mit denen, die mit uns leben, sondern auch mit denen, die vor uns waren, und denen, die nach uns kommen werden.» (Hannah Arendt, Vita activa, München, 1967, S. 69)
 Seit dem abscheulichen und menschenverachtenden Krieg in der Ukraine wird das Thema Versorgungssicherheit verstärkt diskutiert. Viele Menschen denken über die Endlichkeit von Ressourcen, insbesondere von Öl und Gas, nach. Um die Ressourcendurchsätze zu reduzieren, stehen nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung. Wobei die erste Alternative vom Gedanken des technischen Fortschritts geprägt ist. Diese Sichtweise scheint für viele Menschen alternativlos zu sein, weil der technische Fortschritt unauflöslich mit dem Kapitalismus verbunden ist. Der technische Fortschritt führt nicht nur zur Ressourceneffizienz, sondern auch, mit viel Glück, zu neuen Rohstoffquellen. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden. Leider sind aber die Ressourcen begrenzt und wir müssen „uns neu in jener hauchdünnen Kritischen Zone verorten, die Leben auf dem Planeten Erde ermöglicht.“ (Bruno Latour) Somit rückt die Suffizienz unweigerlich in den Fokus. Ist Verzicht überhaupt mit dem grenzenlosen Kapitalismus zu vereinbaren?
Ein Blick zurück
Da ich in meinen Blogs sehr selten persönliche Dinge preisgebe, möchte ich an dieser Stelle mit dieser „Tradition“ brechen. Mein Vater ist genau vor einem Jahr, am 10. April 2021, an Corona verstorben. Deshalb blicke ich heute ein wenig zurück und ein Dialog, der vor 42 Jahren stattfand, geht mir nicht aus dem Kopf.
Als ich im Jahre 1980 mein Studium der Wirtschaftswissenschaften in Paderborn begann, fuhr ich am Wochenende in meine Heimatstadt Oldenburg, um meine Eltern zu besuchen. Auf dem Hof angekommen, sah ich meinen Vater bei der wichtigen Autopflege. Auf seinem Audi 75 hatte er einen Aufkleber platziert. Das ovale Deutschlandschild in schwarz-rot-gold mit der Aufschrift „Ich bin Energiesparer“. Mein Vater und ich kamen ins Gespräch und er wollte von mir wissen, wie es so im Studium läuft. Ich erklärte ihm begeistert von meinem neuen Leben – Campus, Studentenpartys, politischer Betätigung und WG-Erfahrungen. Im Laufe des Gesprächs wurde auch ein Studienproblem erörtert. Damals wusste ich noch nicht, welchen Studienschwerpunkt ich wählen soll: VWL oder BWL standen zur Auswahl. Mein Vater entgegnete, dass er den Unterschied dieser Fachrichtungen nicht kenne. In diesem Augenblick erinnerte ich mich an seinen neuen Aufkleber („Ich bin Energiesparer“). Der Dialog setzte sich dann sinngemäß folgendermaßen fort:
Sohn: Warum bist du eigentlich Energiesparer?
Vater:Â Ich habe letzte Woche eine Kaffeemaschine gekauft. Es ist unglaublich energieeffizient und ich merke es in meinem Portemonnaie. Der Gasherd verbraucht beim Kaffeekochen viel zu viel Energie.
Sohn: Das ist sehr verantwortungsbewusst. Du schonst die Umwelt und sparst auch noch Energie. Apropos Energie, dies ist doch ein sehr schönes Beispiel, um den Unterschied zwischen der Volkswirtschaftslehre und der Betriebswirtschaftslehre zu erklären. Betriebswirtschaftlich bzw. als Haushalt sparst du erwiesenermaßen Energie. Das machen nun sehr viel Haushalte und sie haben nicht nur einen monetären Vorteil, sondern auch noch etwas für die Umwelt getan. Betriebswirtschaftlich macht die Kaffeemaschine also Sinn. Ob dieser Sachverhalt einen ökologischen und energiesparenden Vorteil für die Gesamtwirtschaft, der Volkswirtschaft, bringt, steht aber auf einem anderen Blatt.
Vater: Wieso, wenn alle Haushalte Energie sparen, müsste doch auch die gesamte Volkswirtschaft Energie sparen.
Sohn: So einfach ist es dann doch nicht. Die Kaffeemaschine muss produziert werden, Hierfür sind sehr viele Einzelteile, die aus der ganzen Welt kommen, anzuschaffen. Der Transport verursacht Energiekosten. Die Produktion selbst ist energieintensiv. Diese, und noch viele andere Punkte, sind zu berücksichtigen. Also stellt sich der volkswirtschaftliche Energieverbrauch völlig anders dar als der betriebswirtschaftliche Verbrauch. Außerdem ist der Gebrauch der Kaffeemaschine keineswegs energieneutral. Obwohl viele Menschen Energie sparen, kann es sein, dass der volkswirtschaftliche Energieverbrauch trotzdem steigt. Der oft zitierte Ausspruch: »Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht» stimmt also nicht. Die Volkswirtschaftslehre berücksichtigt nicht primär das Individuum und ihr individuelles Handeln, sondern sie beschäftigt sich mit der kollektiven Ebene, die über partikuläre Interessen hinausgeht.
Anhand dieses einfachen Beispiels habe ich damals meinem Vater den Unterschied zwischen BWL und VWL erklärt. In der darauffolgenden Zeit diente dieser Dialog häufig dazu, meinen Schülerinnen und Schüler diesen Unterschied zu erklären. Außerdem lassen sich ökologische Sachverhalte kaum betriebswirtschaftlich deuten, hier ist die Volkswirtschaftslehre gefragt. Damals wusste ich noch nichts von einem Rebound-Effekt und eine zukünftige neoliberale Wirtschaftsordnung schien absurd zu sein. Die Ressourcenknappheit war aber durchaus ein Diskussionsthema, obwohl die Güter auf dem Weltmarkt im Überfluss verfügbar waren.
Schnitt: Zurück in das Jahr 2022. Der volkswirtschaftliche Energieverbrauch hat sich in den letzten 40 Jahren, trotz effizienterer Nutzung, vervielfacht. Das was damals für die „energiesparende“ Kaffeemaschine galt, gilt noch heute, beispielsweise bei dem Wirtschaftsgut Automobil. Es wird bei der ganzen Diskussion um die E-Mobilität vergessen, dass ein Auto in der Produktion mehr Energie verbraucht als im Straßenverkehr. Dies ist unabhängig davon, ob das Auto mit Benzin, Diesel oder Strom angetrieben wird.
Heute wird über Knappheit der Ressourcen kaum nachgedacht. Man glaubt den gefälschten Zahlen von Salman ibn Abd al Aziz, Wladimir Putin und Co. Wer weiß denn schon, wieviel Erdgas noch in Russland vorhanden ist? Das Gleiche gilt für die Erdölvorkommen in Saudi-Arabien. Im Wesentlichen kommen die Regeln vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank, der Welthandelsorganisation (WTO) und dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) auf den Weltmärkten zur Anwendung. Sie besagen, »dass jede sich irgendwo auf dieser Welt befindende Ressource demjenigen zum Kauf freistehen muss, der das meiste für sie bietet. Mit anderen Worten: Wer immer das Geld hat, um diese Ressource zu kaufen, hat auch einen Rechtsanspruch auf sie. Nach diesen Regeln gehört das Öl Venezuelas ganz genauso den Vereinigten Staaten, als ob es unter dem Boden von Texas oder Missouri läge.« (Richard Heinberg), Es schwant aber mittlerweile vielen Bürgerinnen und Bürger, dass wir langsam, aber sicher an einen Punkt kommen, der durch echten materiellen Mangel gekennzeichnet ist. Deshalb ist die Suffizienzdebatte zu führen. Ich glaube, mein Vater würde mir an dieser Stelle zustimmen.