Arme Menschen sind nicht sozial schwach

08. Januar 2020

„Wer arbeitet, muss was zu essen haben, wer nicht arbeitet, braucht nichts essen.“ (Franz Müntefering, SPD)

„Die Erhöhung von Hartz IV war ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie.“ (Philipp Mißfelder, CDU)

„Früher glaubten wir, die Lebensformen der Unterschicht seien die Folgen ihrer Armut. Das Gegenteil ist richtig: Die Armut ist Folge ihrer Verhaltensweisen.“ (Renate Künast, Bündnis 90 / Die Grünen)

„In Deutschland gibt es Leistungen für jeden, notfalls lebenslang. Deshalb müssen wir Instrumente einsetzen, damit niemand das Leben von Hartz IV als angenehme Variante ansieht.“ (Roland Koch, CDU)

„Wenn Sie was Ordentliches gelernt haben, brauchen sie keine drei Minijobs.“ (Peter Tauber, CDU)

 

Was heißt denn hier „sozial schwach“?

„In Deutschland bekommen die Falschen die Kinder. Es ist falsch, dass in diesem Land nur die sozial Schwachen die Kinder kriegen.“ (Daniel Bahr, FDP)

Herr Daniel Bahr (FDP) meint wahrscheinlich die armen Menschen, die die Kinder bekommen. Würde er tatsächlich die „sozial Schwachen“ meinen, müsste er natürlich unzählige reiche Menschen und sogenannte Leistungsträger mitberücksichtigen. Unter reichen Menschen ist soziale Schwachheit besonders ausgeprägt, weil gerade diese Bevölkerungsgruppe sich selten um den solidarischen Ausgleich kümmert; denn sozialer Ausgleich und Solidarität bedeutet, dass Menschen sich gegenseitig unterstützen und auch  diejenigen einen Rechtsanspruch auf Bildung, Gesundheit und ein Existenzminimum haben, die sich dieses aus eigener Kraft nicht leisten können. Da dieses Bewusstsein bei vielen sogenannten Leistungsträgern fehlt, sind sie häufig sozial schwächer als ärmere Menschen.

Schafft die Sanktionen ab

Die „Hartz IV“-Reform  trat vor 15 Jahren in Kraft. Im Jahre 2007 wurden für die Leistungsempfänger Sanktionen eingeführt. Die Bundesagentur für Arbeit hatte somit die Möglichkeit das Existenzminimum zu kürzen. Fraglich ist, ob ein Jobcenter über menschliche Existenzrechte entscheiden kann – die Würde des Menschen ist schließlich unantastbar. Nun hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit dem kürzlich verkündeten Urteil zwar die Höhe einer Leistungsminderung von 30% nicht beanstandet, weitere Sanktionen sind aber mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Dies ist ein erster zielführender Schritt und weitere müssen folgen, denn existenzsichernde Geldleistungen garantieren die grundgesetzlich verbriefte Menschenwürde. Not lässt sich mit Geld lindern, dadurch werden aber nicht die strukturellen Ursachen beseitigt. Um soziale Gerechtigkeit herzustellen, bedarf es der politischen Intervention, die durch die o.g. Aussagen dieser Politikerinnen und Politiker konterkariert wird, weil man einfach die Hartz IV-Empfänger für ihr Schicksal verantwortlich macht. Die genannten Politiker gehen vermutlich von der neoliberalen Vorstellung aus, dass Allokationsentscheidungen am besten von den Märkten getroffen werden. Das hat zur Konsequenz, dass sich Arbeitsmärkte herausbilden, die die Arbeitskraft als Ware behandeln. Die sogenannte Ware Arbeitskraft kann man aber nicht so behandeln wie jede x-beliebige Ware. Menschen sind Individuen mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten und Vorlieben, mit Träumen, Wünschen und Hoffnungen. Die neoliberale Denkweise hat sich in den Köpfen schon so weit ausgebreitet, dass kritiklos behauptet wird, Menschen müssen sich ähnlich wie Waren verkaufen und entsprechend miteinander konkurrieren. Damit wird das Armutsproblem auf individuelles Versagen reduziert und nicht als ein soziales, gesellschaftliches Phänomen begriffen. Auch sind viele Politikerinnen und Politiker der Auffassung, dass die Märkte, bzw. die Arbeitsmärkte das Armutsproblem lösen können.

Arbeitsmärkte

Die Deutung des Begriffs „Arbeitsmarkt“ war für die „Väter der Sozialen Marktwirtschaft“ problematisch. Walter Eucken (1891-1950) behauptete sogar, dass die „Arbeit keine Ware“ sei und zwischen Sachgüter- und Arbeitsmärkten Unterschiede bestünden, „die zu beachten sind“.[1] Wie die o.g. sechs Zitate belegen, haben offensichtlich viele Politiker geringe Kenntnisse  von der Funktionsweise einer Marktwirtschaft. Es ist ein Allgemeinplatz – sämtliche Märkte diskriminieren andauernd über den Preis. Dies ist keineswegs bösartig zu verstehen, sondern die Diskriminierung ist systemrelevant und produziert demnach permanent Ungleichgewichte, Niveauunterschiede, Armut und Mangel.  „Es wird nie ganz reichen für alle, ganz gleich, wie viel Ãœberfluss vorhanden ist.“ (Heiner Müller) Da wir nicht im Paradies leben und die Zuteilung der knappen Güter über den Preis erfolgt, müssen natürlich Anbieter und Nachfrager, die die Preise nicht zahlen können oder wollen, permanent vom Markt gedrängt werden. Ohne Verlierer gibt es auch keine Gewinner.

Häufig wird behauptet: Wenn sich alle anstrengen, sich bilden und etwas leisten, wird es keine Armut, kein Elend und auch keine Arbeitslosigkeit geben. Dies ist aber nicht möglich, da Konkurrenzsituationen auf dem freien Arbeitsmarkt immer dazu führen, dass es Gewinner und Verlierer gibt und zwangsläufig Armut reproduziert wird. Alle können es eben nicht schaffen. Die jahrelang umworbene neoliberale Leistungsgesellschaft entlarvt sich an dieser Stelle selbst.

Auch wenn der Arbeitsmarkt beispielsweise 50 offene Arbeitsstellen ausweist und 100 top ausgebildete Arbeitnehmer sich um diese Stellen bewerben, sorgt die Selektion des Marktes dafür, dass es zwangsläufig 50 Verlierer gibt. Häufig höre ich von erfolgreichen Unternehmern und  Professoren, dass zum Erfolg auch sehr viel Glück gehört. Und das ist dann mal eine ehrliche Aussage und sie macht den erfolgreichen Menschen sofort sympathisch.

Hartz IV – Empfänger sind Bürger und keine Kunden

Vor längerer Zeit wurden die Armen in Deutschland von einem ranghohen Politiker als „Parasiten“ bezeichnet. Nun könnte man annehmen, dass dieser Ausspruch vor 80 Jahren, während der Nazi-Barbarei, getätigt wurde. Weit gefehlt. Diese Bezeichnung haben wir dem „sogenannten Superminister“ (Wirtschafts- und Arbeitsminister, gleichzeitig!) Wolfgang Clement zu verdanken. Er verbreitete im Jahre 2005 über sein Ministerium ein Papier mit dem Titel „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, Abzocke und Selbstbedienung im Sozialstaat“. In diesem Papier wurde dann vom Ministerium des damaligen SPD-Politikers Wolfgang Clement der biologische Begriff „Parasit“ auf die ärmere Bevölkerung bezogen. Ich erspare mir an dieser Stelle einen Kommentar, weil ich befürchten muss, auf ein unwürdiges Sprachniveau herabzusinken. Deshalb zum Abschluss ein Zitat des Pädagogen und Sozialreformers Johann Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827): „Wohltätigkeit ist das Ersaufen des Rechts im Mistloch der Gnade.“  Wir beobachten schon seit längerer Zeit, dass diese Form des Ersaufens von elementaren Menschenrechten leider immer populärer wird.

Nachtrag zum jüngsten Hartz IV – Urteil des Bundesverfassungsgerichts

„Das Gericht musste prüfen, ob die Sanktionen gegen Hartz IV – Empfänger mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Seit Jahren kritisieren Sozialverbände, dass die Leistungskürzungen meistens die Falschen treffen. Die Betroffenen seien oft psychisch krank und gar nicht in der Lage, sich auf eine Stelle zu bewerben. Also fragte das Bundesverfassungsgericht ganz schlicht bei der Bundesregierung nach: Welche Belege gibt es dafür, dass eine vollumfängliche Sanktion „wirkt“? Findet ein Mensch wieder Arbeit, nachdem seine Leistungen vollständig gestrichen worden sind?

Diese Frage hätte die Bundesregierung eigentlich aus dem Stand beantworten müssen. Sie ist kraft Gesetz verpflichtet, die Wirkung von Hartz IV „regelmäßig und zeitnah zu untersuchen“.[2] Und immerhin werden nun schon 14 Jahre lang solche Sanktionen verhängt. Aber die Verfassungsrichter mussten in ihrem Urteil erstaunt notieren, dass ihnen keine „tragfähigen Erkenntnisse“ vorgelegt wurden. Deshalb -aber nur deshalb- erklärte das Bundesverfassungsgericht die von ihm geprüften Sanktionen für verfassungswidrig, sofern mehr als 30 Prozent der Leistung gekürzt werden.[3]“ [4]

[1]  Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Rowohlt, Reinbek 1965, S. 185.

[2] Paragraph 55 Sozialgesetzbuch II

[3] Urteil vom 5.11.2019 (1 BVL 7/16) Rn. 205

[4] Michael Kanert, Hartz IV: Im Dschungel der Kompetenzen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, 12/19, S. 17. Michael Kanert ist Sozialrichter in Berlin.

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