In der Ökonomie kann man einen Kontrahenten niemals eines Fehlers überführen – man kann ihn höchstens davon überzeugen. Und selbst wenn man recht hat, kann man ihn nicht überzeugen […], wenn sein Kopf bereits voller gegenläufiger Überzeugungen ist.
(John Maynard Keynes zugeschriebenes Zitat)
Was mich immer wieder erstaunt ist folgender ökonomischer Sachverhalt: In „normalen“ wirtschaftlichen Zeiten werden die Märkte vergöttert, die Selbstheilungskräfte der Märkte beschworen und die neoliberale Wirtschaftstheorie, die den Staat nicht als Lösung, sondern als Problem klassifiziert, ist ohnehin heilig.
In Krisenzeiten hingegen erinnert man sich dann an John Maynard Keynes (1883-1946) und es wird festgestellt, dass sich die Märkte überhaupt nicht selbst heilen können, der Ruf nach dem Staat wird zunehmend lauter und viele Wirtschaftsteilnehmer beanspruchen Hilfe. Selbst die Firma VW, die einen Jahresgewinn von 20 Milliarden Euro erwirtschaftet hat, schickt Teile der Belegschaft in die staatlich finanzierte Kurzarbeit, um dann im Gegenzug die Gewinne den Shareholder zukommen zu lassen. Schließlich ist es den Aktionären auch nicht zuzumuten, auf ihre leistungslosen Dividenden (Renten) zu verzichten.
Auch wenn ich der Auffassung bin, dass die Theorien von John M. Keynes stärker in den Fokus der ökonomischen Bildung zu verankern sind, möchte ich mich an dieser Stelle nur sehr kurz mit einem Aspekt der keynesianischen Theorie auseinandersetzen – die Ergodizität, die eine Eigenschaft dynamischer Systeme ist. Der Begriff geht auf den Physiker Ludwig Boltzmann zurück und kann als spezieller stochastischer Prozess interpretiert werden. Im Gegensatz zu der klassischen volkswirtschaftlichen Theorie und auch zu der neoliberalen Mainstream-Ökonomie hat John M. Keynes eine andere Auffassung über die Vorhersehbarkeit wirtschaftlicher Prozesse vertreten.
Die Sichtweise des John Maynard Keynes
„Worum geht es bei der Frage der Ergodizität? Wenn man sich vorstellt, der Weg eines Wirtschaftssystems auf der Zeitachse Richtung Zukunft werde von einem „stochastischen Prozess“ bestimmt, wie die Statistiker sagen, so lässt sich für die zukünftigen Folgen zu jeder in der Gegenwart getroffenen Entscheidungen eine Wahrscheinlichkeitsverteilung angeben. Will man beim Fällen einer Entscheidung zu den wirtschaftlichen Auswirkungen in der Zukunft eine einigermaßen seriöse statistische Vorhersage machen, so müsste man logisch gesprochen stichprobenartig Daten aus der Zukunft erheben und auswerten, um die zukünftige Entwicklung des Marktes abzuschätzen. Da es nun aber unmöglich ist, Daten über die Zukunft zu erheben, gehen Ökonomen von der Annahme aus, die wirtschaftliche Entwicklung werde von einem ergodischen stochastischen Prozess bestimmt, so dass in der Vergangenheit und Gegenwart gewonnene Stichproben äquivalent zu einer Stichprobe aus der Zukunft sind. Das Axiom der Ergodiziät geht mit anderen Worten davon aus, dass die zukünftige Marktentwicklung ein „statistischer Schatten“ der in Vergangenheit und Gegenwart erhobenen Marktdaten ist.“[1]
Mit dem Axiom der Ergodizität wird unterstellt, dass Ökonomen zuverlässige Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen machen können, indem die Daten aus Zeitreihen und Querschnitten gewonnen und statistisch ausgewertet werden. Also können Wirtschaftswissenschaftler in die Zukunft schauen und das Kaninchen aus dem Zauberhut[2] ziehen. Dies hat Keynes, wie ich meine, zu Recht kritisiert. Der Nobelpreisträger Sir John Hicks hat es so ausgedrückt: „Wir sollten wissenschaftliche Modelle entwerfen, in denen die Menschen nicht wissen, was passieren wird, und sich darüber bewusst sind, dass sie nicht wissen, was passieren wird. Genauso, wie es in der Geschichte stets der Fall war!“[3]
Mit der Ablehnung des Axiom der Ergodizität unterstellt Keynes, dass Ökonomen eben nicht alles vorhersagen können. Die Wirtschaftswissenschaft hat sich auf die Vorhersagbarkeit ökonomischer Ereignisse kapriziert und die Lenkungsmechanismen der Märkte wurden nahezu vergöttert. Die Ökonomie versteht es aber nicht, sich mit der veränderlichen Realität, z.B. dem Klimawandel, zu beschäftigen, es sei denn, es geht um ein Geschäftsmodell. Die Wirtschaft ist aber ein nichtstationärer Prozess, der sich mit Verteilungskämpfen, Kriegen, Seuchen und anderen gesellschaftlichen Faktoren durch die Geschichte bewegt. Die Wechselwirkungen zwischen wirtschaftlichen Ereignissen und Umständen wird aus der Betrachtung ausgeblendet. Stattdessen meinen die ökonomischen Entscheidungsträger tatsächlich, sie könnten die Zukunft gestalten und somit auch beeinflussen. Die Zukunft ist deshalb schwer vorhersehbar, weil die Natur ein fragiles System ist. Kleine systematische Änderungen, siehe CO2-Konzentration, haben aber dramatische Auswirkungen. Dies lässt sich auch auf das Corona-Virus übertragen. Die Zukunft wird aber nicht durch die Stochastik oder dem Satz von Bayes und erst recht nicht durch Versuch und Irrtum entdeckt. Auch wenn Marketingfachleute der Auffassung sind, das Verhalten von Marktteilnehmern vorhersagen zu können, darf man aus derartigen Beobachtungen keine volkswirtschaftlichen Rückschlüsse ziehen. Dies gilt auch für die Theoretiker der Markteffizienz. Wenn wir die Argumentation von Keynes akzeptieren, dann ist die wirtschaftliche Zukunft von Finanzmärkten ungewiss und nicht vorhersehbar. Wird dieses Axiom hingegen akzeptiert, erscheint die Markteffizienztheorie zwingend logisch. Auch hat Keynes zu recht kritisiert, dass freie Märkte nicht unweigerlich auf einen Zustand der Vollbeschäftigung hinauslaufen. Volkswirtschaftlich und ökologisch denkende Ökonomen müssen wissen, dass man aus den wirtschaftlichen Daten der Vergangenheit keine zukunftstauglichen Entwürfe gestalten kann. Die Zukunft ist kein aus Vergangenheit und Gegenwart zu verlängerndes Faktum. Man kann aber aus der Geschichte lernen, um Zukunft zu gestalten.
Dies gilt insbesondere für die Corona-Krise und die damit zusammenhängende Schrumpfung des Wirtschaftswachstums. Das Virus hat es offenbart – die gestaltete Zukunft entspricht häufig nicht genau dem, was den Entscheidungsträgern vorschwebt. Auch die Menschen, die ihr altes Leben zurückhaben wollen, werden vermutlich enttäuscht, denn die Maßstäbe haben sich verrückt. Oder sind sie verrückt? „Ist, was wir gerade erleben, mit der Logik des Absurden besser zu beschreiben als mit dem Rationalen? Denn die würde die Ursache als Prämisse nehmen und die Folge in Relation zu vergleichbaren Folgen setzen. Wer die Ängste und Entbehrungen der letzten Wochen mit der Hoffnung entschädigt, so bald wie möglich zu seinem gewohnten Leben zurückzukehren, hat die Botschaft des Virus nicht verstanden.“[4]
[1] Paul Davidson, John Maynard Keynes, Berlin, 2015, S. 43
[2] Der Finanzjongleur Gordon Geko (gespielt von Michael Douglas) im Film Wall Street aus den 1980er Jahren beschreibt die übernatürlichen Kräfte der Ökonomie: „Aber nach unseren Regeln wird gespielt. Die Nachrichten, der Krieg, Hungersnöte, das große Chaos und der Preis für eine Büroklammer. Wir ziehen das Kaninchen aus dem Zylinder, die anderen sitzen da und wundern sich, wie wir das gemacht haben.“
[3] J.R. Hicks, Economic Perspectives, Oxford, 1977, S. Vii
[4] Daniela Dahn, Verrückte Maßstäbe, in: der Freitag, Nr. 17, 23.April 2020, S. 3