„Wo viel Freiheit ist, ist auch viel Irrtum.“
(Friedrich Schiller)
Sollte man der FDP gratulieren? Vielleicht, denn genau vor 50 Jahren, am 27.Oktober 1971 verabschiedete die FDP die „Freiburger Thesen“ in der Stadthalle von Freiburg im Breisgau. Der geistige Vater der Freiburger Thesen war Karl-Hermann Flach. Er wollte den Liberalismus erneuern und erklärte, dass „[die] Liberalen jede Idee, jedes Konzept, jede Utopie, jedes Gesetz darauf abklopfen [müssen], ob sie in der Praxis wirklich mehr Freiheit für mehr Menschen bringen.“ Erstaunlicherweise waren die Freiburger Thesen das erste Parteiprogramm in Deutschland, das den Umweltschutz erwähnte. „Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen. Umweltschädigung ist kriminelles Unrecht.“ An anderer Stelle ist zu lesen: „In der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen muss das Recht auf eine Umwelt in bestem Zustand aufgenommen werden.“ Der Begriff „Enteignung“ taucht an vielen Stellen der Freiburger Thesen auf. Beispiel gefällig: „Die liberale Reform des Kapitalismus erstrebt die Aufhebung der Ungleichgewichte des Vorteils und der Ballung wirtschaftlicher Macht, die aus der Akkumulation von Geld und Besitz und der Konzentration des Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen folgen.“ Solche Formulierungen findet man in der heutigen Zeit noch nicht einmal bei der Partei Die Linken.
Kurz nach der Veröffentlichung dieser Thesen ist Karl-Hermann Flach im Jahre 1973 gestorben. Heute würde er sich wundern, was aus dieser FDP geworden ist, weil die Freiburger Thesen in das Gegenteil verkehrt worden sind. Gewinnstreben, Eigennutz, Individualismus und Eigentums- und Vermögenskonzentration haben den Umweltbegriff ersetzt. Der damalige FDP-Politiker Gerhart Baum wird sich noch an die Freiburger Thesen erinnern und sie vielleicht vermissen. Baum war von 1972 bis 1978 Parlamentarischer Staatssekretär bei den damaligen Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher. Heute ist Gerhart Baum einer der wenigen Liberalen, die sich noch mit diesen Thesen auseinandersetzen.
Leider gibt es keinen Grund zu Freude und auch nicht zur Gratulation, weil sich die FDP meilenweit von den Freiburger Thesen entfernt hat. Sogar die deutschen Unternehmer sind bezüglich des Umwelt- und Klimaschutzes wesentlich fortschrittlicher als die FDP. Dies belegt der Aufruf vieler deutscher Unternehmen: „Wir rufen die neue Bundesregierung auf, die Transformation zur Klimaneutralität zum zentralen Wirtschaftsprojekt zu machen“ vom 11.10.2021. Hier wird u.a. gefordert, dass sektorübergreifend eine ambitionierte Klimapolitik, die den Zielen des Pariser Klimaschutzabkommens gerecht wird, unverzüglich durchgesetzt wird. Der Aufruf wurde unterzeichnet von: Adidas, Aldi Süd, Allianz, Bayer, EnBW, e.on, Hugo Boss, Miele, Puma, Rossmann, SAP, Thyssenkrupp und sehr vielen mehr. Bezeichnenderweise fehlt die gesamte Autoindustrie. Die Unterzeichner fordern die neue Bundesregierung auf, vom ersten Tag der neuen Legislaturperiode an die Weichen dafür zu stellen. Ob das, von den Unternehmen geforderte, mutige und entschlossene Handeln von der FDP ausgebremst wird, bleibt abzuwarten.