»Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.» (Bertold Brecht, Leben des Galilei)
Karl Marx hat Kapitalisten als Charaktermasken[1] bezeichnet. Dies ist keineswegs bösartig zu verstehen, er stellt lediglich einen Bezug zum antiken Theater her. Der Kapitalist ist Träger einer Rolle, die er spielen muss, um in diesem System zu bestehen. Es macht keinen Sinn, einem Kapitalisten zu empfehlen, nicht so gierig zu sein und sich mit dem zu begnügen, was man hat. Die Gesetzmäßigkeiten der Konkurrenz gestatten ihm solche Verhaltensweisen nicht. Die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft zwingt ihn, die Produktivität zu steigern. Er ist verpflichtet zu investieren und noch mehr Mehrwert zu schaffen. Der einzelne Unternehmer ist nur ein kleines Rad im Getriebe, der den Zwängen des Marktes unterliegt. Es geht bei Marx weder um eine ethische Bewertung noch um individuelle Personen und deren Absichten, sondern um ökonomisch definierte Rollen, die den Individuen zukommen. Die Individuen scheinen ihre Rollen, wie im antiken Theater, mehr oder weniger gut zu spielen.
Das Theaterspiel
Das Theater und die Maskerade gehören zu unserer Kultur. Der Anthropologe Marshall Sahlins ergänzt: »Jede Kultur ist ein Glücksspiel, das mit der Natur gespielt wird.» Sowohl Sahlins als auch Marx setzten sich kritisch mit dem Homo oeconomicus auseinander.
Karl Marx war aber weit davon entfernt die kapitalistische Produktionsweise moralisch zu kritisieren, noch beabsichtigt er, den einzelnen Individuen Schuld zuzuweisen. Nach diesem Rollenverständnis ist der Kapitalist auf Gedeih und Verderb der Logik des Kapitals ausgesetzt. Wie die meisten Schauspielerinnen und Schauspieler ist er in seiner Freiheit stark eingeschränkt, sonst könnte er die Rolle nicht spielen.
Aber es gibt Hoffnung, denn Schauspieler nutzen die Maske, um einen bestimmten Charakter darzustellen, sie maskieren sich. Diese Maske kann auch als Schutz dienen. Als Ganzkörpermaske kann sogar ein Rundumschutz manchmal sinnvoll sein. Wenn der Schutz nicht mehr benötigt wird, lassen sich Schutzmasken auch ablegen. Noch leichter dürfte es fallen, die Maske als Kostümierung herunterzunehmen. Die meisten Schauspielerinnen und Schauspieler wissen auch, dass man eine Maske nicht dauerhaft tragen muss, man kann sie auch absetzen und seine Rolle im Welttheaterstück der ständig zunehmenden Produktion überwinden. Dies wird spätestens dann notwendig, wenn die Totenmasken das Welttheater kapern.
Bevor dies geschieht, muss sich das Welttheater aber zügig von seiner Gewinnsucht befreien. Wie bei jeder anderen Sucht wird dies aber zu einer besonderen Herausforderung, weil man die endogene Systemlogik in Frage stellen und heilen muss. Nach der Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann sind soziale Systeme autopoietisch und selbstreferentiell. Sie erschaffen sich von selbst und folgen einer eigenen Logik. Wenn sie sich einmal etabliert haben, streben diese Systeme nach Selbsterhalt. Individuelle Verhaltensänderungen werden deshalb kaum imstande sein, diese Systeme zu ändern oder gar abzuschaffen. Dies trifft auf den Kapitalismus zu, weil er nicht nur ein Wirtschafts- sondern auch ein allumfassendes Gesellschaftssystem ist, dass darauf ausgerichtet ist, die eigene Substanz zu vertilgen. Nancy Fraser hat den Kapitalismus zutreffend als »Allesfresser« bezeichnet und Ulrike Hermann ergänzt: „Der Kapitalismus folgt aber der Logik der Krebszelle. Er muss unaufhörlich wachsen und zerstört damit erst seine Umwelt – und dann sich selbst.“
“Alles Herstellen ist gewalttätig, und Homo faber, der Schöpfer der Welt, kann sein Geschäft nur verrichten, indem er Natur zerstört.” (Hannah Arendt, Vita activa)
Marx selber sprach hingegen nie vom Kapitalismus, auch nicht vom Produktionsfaktor Kapital. Er bevorzugte den Begriff kapitalistische Produktionsweise, der in diesem Zusammenhang auch zielführend ist. Entscheidend ist, dass dieses System produziert, um des Produzierens willen.[2] Der Unternehmer muss seine Rolle spielen und sich dieser Produktionsweise anschließen; er hat scheinbar keine Alternative, er muss investieren und wachsen, andernfalls geht er unter. Insofern ist der Begriff Freie Marktwirtschaft widersprüchlich, weil diese Wirtschaftsform keineswegs frei ist, sondern eine totale Unterwerfung, hinsichtlich der Gesetze des Marktes und seiner Zwänge. Dieses »System allseitiger sachlicher Abhängigkeit«[3] hat mit freien Märkten wenig zu tun, weil der wettbewerbsbedingte Zwang zur Akkumulation das System am Leben erhält. Es ist ausgerichtet auf Expansion, Steigerung und Intensivierung aller wirtschaftlichen Sektoren. Das System erscheint vielen Menschen als alternativlos, weil sich das Narrativ des »unersättlichen« Menschen, der in einem permanenten Konkurrenzkampf lebt, in der Gesellschaft verfestigt hat. Es ist aber nur eine ideologische Sichtweise, dass der Mensch prinzipiell eigennützig, habgierig und unersättlich sei. Die Realität ist eine andere und auch eine Maskenparade kann ein Ende finden. Viele Menschen verweigern sich dieser ideologisch irrationalen Konsum- und Profitlogik und streben nach Gleichheit, Gemeinschaft und demokratischen Strukturen.
Da die Unternehmen fast ausschließlich profitorientiert agieren, haben sie kein Interesse daran, alternative Wirtschaftssysteme aufzuspüren. Das Ansteigen von Produktionskapazitäten und von Investitionsmitteln erhöht nicht nur die Akkumulation, sondern auch die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Macht von Unternehmen. Und an dieser Stelle erscheinen die von Marx beschriebenen Charaktermasken in einem anderen Licht. Die vereinnahmende Behauptung »Wir sind alle Charaktermasken« hat einen versöhnenden Beigeschmack und suggeriert, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. Dies ist selbstverständlich nicht richtig. Die Reichen sitzen in Superyachten, während die ärmere Bevölkerung sich mit Schlauchbooten zufriedengeben muss. Somit ist auch der Ressourcenverbrauch ungleich verteilt. Schon Marx wusste, dass sich die kapitalistische Produktion nur entwickeln kann, »indem sie zugleich Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« Diese Logik des Kapitalismus ist nach wie vor gültig und das planetarische Zerstörungspotential an der Natur durch den Kapitalismus ist einmalig in der Geschichte der Menschheit.
[1] Vgl. Marx Engels Werke (MEW) Band 23, S. 91 und S. 100.
[2] Vgl. Jürgen Neffe, Marx, Der Unvollendete, München, 2017, S.416.
[3] MEW 23, S. 122.