Das Kapital – das scheue Reh

16. Juli 2020

Die Corona-Krise zeigt uns die Schwächen des Wirtschaftssystems auf. Die Fleischskandale der Firma Tönnies offenbaren unhaltbare Lebens- und Arbeitsbedingungen für Mensch und Tier. Die ökologischen Probleme der Tourismusbranche werden durch die nicht genutzten Flugzeuge  und Kreuzfahrtschiffe  sichtbar. Auch werden die Nachteile einer allumfassenden Globalisierung, die das Kapital in Sekundenbruchteilen um den Erdball katapultiert, mit zunehmender Krisenzeit abnehmend diskutiert und im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Ausdruck Kapital, wie vor der Coronazeit üblich, mystifiziert. Eine Diskussion über die Schwächen des Wirtschaftssystems findet selten statt. Die strukturellen Probleme der Autoindustrie gab es schon weit vor der Corona-Krise, jetzt wird die Pandemie als Begründung genutzt, um Massenentlassungen durchzuführen.  Vor, während und nach der Corona-Krise gilt, wie gehabt –  der volkswirtschaftliche Produktionsfaktor Kapital dominiert den Faktor Arbeit.

Das scheue Reh

 Das Kapital ist angeblich »ein scheues Reh«, also ein Lebewesen, das ängstlich und schreckhaft ist. Es darf auf keinen Fall, beispielsweise durch hohe Steuern, verärgert werden. Deshalb ist die Kapitalertragsteuer in Deutschland nur auf 25 Prozent festgeschrieben und der Solidaritätszuschlag, der reichere Personen verärgert, soll abgeschafft werden. Die Renditebedingungen für Investoren müssen schließlich verbessert werden. (Den Zusammenhang zwischen Besteuerung und Investitionstätigkeit habe ich im Blog Steuersenkungen? dargestellt.) Dass Kapital ist aber kein schutzwürdiges Reh, sondern »vielmehr ein hungriger Löwe, der immer dorthin zieht, wo er die beste Chance sieht, Beute zu machen. Wie also umgehen mit dem Löwen? Nun, die Lösung ist in der Theorie einfach und in der Praxis schwierig. Wenn die großen Volkswirtschaften – statt einen Wettbewerb um die günstigsten Konditionen für Investoren auszutragen – gemeinsam Sozialstandards, Steuertarife und Arbeitnehmerrechte beschließen würden, dann müsste sich das Kapital diesen Bedingungen anpassen. Den Investoren bliebe gar nichts anderes übrig. Denn außerhalb dieser Wirtschaftsräume gäbe es schlicht nicht genügend Investitionsmöglichkeiten. Die Staaten wären nicht mehr die Gejagten – sie würden zu Löwenbändigern«.[1]

Das Kapital in der Corona-Krise

 Gerade in der Corona-Krise besteht nun die Möglichkeit, sich auf gemeinsame Sozialstandards, Arbeitnehmerrechte und Investitionslenkungen zu einigen. Dies wird besonders in der Fleischindustrie (Firma Tönnies u.ä.) deutlich. Aber auch die Fehlinvestitionen der Autoindustrie gehören auf den Prüfstand. Deshalb sind im nationalen Rahmen dringend Reformen nötig. Wünschenswert wäre es, wenn sich die europäische beziehungsweise die internationale Staatengemeinschaft auf gemeinsame Sozialstandards und Arbeitnehmerrechte einigen könnten. Diese Vorgehensweise passt sehr gut in den Rahmen einer Sozialen Marktwirtschaft, aber nicht in eine neoliberale Ökonomie, die die absolute Freiheit des Kapitals propagiert. Kurioserweise ordnet sich das freiheitsliebende Kapital dem, von Marx begründeten, Zwangsgesetz des Kapitalismus, nämlich Wettbewerb, permanente Verwertung und technischer Fortschritt, widerspruchslos unter und glorifiziert sogar diese Zwänge.

Der Fall der Profitrate

Kapital entsteht durch Investitionstätigkeiten. Je höher die Rendite (lt. Marx Profitrate) einer Investition, desto größer ist der Wettbewerbsvorteil. Bei diesem Versuch stößt der Kapitalist oder Kapitaleigner allerdings auf Schwierigkeiten. Die konkurrierenden Unternehmen sind ebenfalls gezwungen, ihre Produktivkraft in ihren Betrieben durch Kauf von neuen Maschinen (Investitionen) zu erhöhen. Aufgrund der Konkurrenzsituation wird notwendigerweise die Verzinsung des Kapitals fallen. Also erlahmt die Kapitalproduktivität allmählich. Marx begründete damit seinen Lehrsatz vom allgemeinen Fall der Profitrate. Er betonte aber, dass dieser Lehrsatz nur einen tendenziellen Charakter habe. Daraus entstand das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate.[2] Marx folgerte daraus, dass der Sinn des Kapitalismus nicht die Warenproduktion für den Bedarf der Gesellschaft sei, sondern der Profit. Dieser Widerspruch bewirke, dass das System immer wieder aus dem Gleichgewicht gerate. Unbestritten ist die Konzentration des Kapitals, die Macht der multinationalen Konzerne vergrößert sich zusehends, insbesondere wenn es sich um sogenannte smarte, digitale Unternehmen handelt. Immer mehr kleinere und mittlere Betriebe werden durch kapitalkräftige Multis geschluckt. Es steht zu befürchten, dass sich dieser Sachverhalt mit zunehmender Dauer der Corona-Krise verschärfen wird. Diese (hier sehr verkürzte) Analyse nutzte Marx unter anderem dazu, den Untergang des Kapitalismus zu skizzieren.

Der permanente Kampf um die „beste“ Investition

Sehr vereinfacht könnte man diesen Prozess in eine volkswirtschaftliche Kausalkette übersetzten. In einem wettbewerbsorientierten Wirtschaftssystem fallen logischerweise die Profitraten der Unternehmen. Warum ist das so? Beispielsweise hat ein Unternehmen durch eine kluge Unternehmenspolitik Wettbewerbsvorteile, weil diese Unternehmung ein neues Produkt erfunden hat. Aufgrund der mangelnden Konkurrenzsituation ist die Gewinnspanne relativ hoch, diesen Mehrgewinn wird diese Unternehmung natürlich vereinnahmen. Angelockt durch die hohen Gewinnerwartungen kommen weitere Unternehmungen auf den Markt, weil sie ebenfalls einen Profit erzielen möchten. Durch die Wettbewerbssituation fallen logischerweise die Preise, die Konsumenten freuen sich und die Produzenten müssen Gewinneinschränkungen hinnehmen. Einige kleinere Unternehmen können die niedrigen Preise nicht mehr halten, entlassen Arbeitskräfte und verschwinden vom Markt. Der Markt dünnt sich immer stärker aus, im Zweifelsfall bleibt nur noch ein Unternehmen übrig. Das hat dann die absolute Marktmacht und kann sie auch negativ gegenüber der Gesellschaft ausüben. Der Markt hat an dieser Stelle seine wesentlichen Eigenschaften verloren: Wettbewerb und Konkurrenz.[3] Die Corona-Krise wird diesen Prozess beschleunigen und die Renditen von beispielsweise Jeff Bezos werden auch zukünftig durch die Decke gehen und seine Marktmacht wird sich um ein Vielfaches vergrößern. Um diese Marktmacht zu brechen, bietet die Corona-Krise die Chance, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene, über bessere Sozialstandards, Verteilungsgerechtigkeit, höhere Steuern, bessere Arbeitnehmerrechte, Reduzierung des Ressourcenabbaus und Verminderung der Umweltbelastung zu diskutieren und Veränderungen herbeizuführen.

[1] Daniel Baumann / Stephan Hebel, Gute–Macht–Geschichten, Frankfurt / Main, 2016, S. 154

[2] Auf die genaue Herleitung des Gesetzes wird an dieser Stelle verzichtet.

[3] Natürlich ist der von mir beschriebene Prozess nicht identisch mit dem von Marx untersuchten »tendenziellen Fall der Profitrate«. Vielleicht dient diese Vereinfachung aber ein wenig dazu, Licht in die Dunkelheit zu bringen. Sorry, Karl Marx.

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