Die Fischerei und der Kapitalismus (2)

30. Oktober 2022

„Die scheinbare Gesundheit unserer Ökonomie heute basiert darauf, zukünftigen Generationen Naturreichtum wegzunehmen.“ (George Mobiat) 

Die Konsummuster und das Konsumverhalten gleichen sich weltweit immer stärker an. Der Konsum scheint für viele Menschen zum Lebensinhalt geworden zu sein. Da sich die meisten Menschen so verhalten, wird der übersteigerte Konsum als „normal“ angesehen. Normalität bildet sich durch gesellschaftliche Normgebung heraus, normal ist also, was wir gewohnt sind. Natürlichkeit hat mit der Natur allerdings nichts mehr zu tun. Weil der Mensch Teil der Natur ist, wird angenommen, dass seine Handlungen normal und natürlich.

Shifting baslines in der Soziologie

Soziologen nennen dieses Phänomen shifting baselines. Menschen halten immer jenen Zustand ihrer Umwelt für den »natürlichen «, »der mit ihrer Lebens- und Erfahrungswelt identisch ist.«[1] Harald Welzer hat dazu, wir kehren wieder zur Fischerei zurück, ein einleuchtendes Beispiel geliefert: »So hat, […], eine Gruppe von Ökologinnen und Ökologen unlängst untersucht, wie kalifornische Fischer Veränderungen in ihren Fischbeständen und Fanggründen im Generationenvergleich wahrnehmen. Das ist die bislang einzige empirische Untersuchung über sich verändernde Wahrnehmungen der Umwelt und ihre Ergebnisse sind verblüffend. Die Forscher haben drei Generationen von Fischern danach gefragt, wo aus ihrer Sicht welche Bestände zurückgegangen seien, welche Arten ihnen hauptsächlich ins Netz gegangen sind, was der größte Fang und wie groß der mächtigste Fisch war, den sie je an Bord gezogen haben. Die jüngste Befragtengruppe war zwischen 15 und 30 Jahre alt, die mittlere 31 bis 54, die dritte entsprechend älter als 54 Jahre. Zwar sagten 84 Prozent der Befragten, dass es einen Rückgang der Bestände insgesamt gäbe, aber die Annahme darüber, welche Fische wo nicht mehr vorkämen, fielen krass unterschiedlich aus. So nannten die Fischer der älteren Gruppe elf Arten, die verschwunden waren, die der mittleren Gruppe sieben, aber die Jüngsten nannten lediglich zwei Fischarten, die in ihren Fanggründen nicht mehr vorkämen. Die Jüngsten hatten auch gar keine Vorstellung mehr darüber, dass es dort, wo sie selbst täglich fischten, vor nicht allzu langer Zeit massenhaft Weißhaie, Judenfische (Epinephelus itajara) oder auch Perlaustern gegeben hatte. Derselbe Befund zeigte sich, als es um die Fischgründe ging. Während die älteste Befragtengruppe sich erinnerte, dass man früher nicht weit herausfahren musste, um die Netze zu füllen, müssen sie heute weit aufs Meer, um annähernd ausreichende Fänge zu machen. Von den jüngsten Befragten hatte niemand mehr auch nur die Idee, dass man in Küstennähe überhaupt etwas fangen könnte, und deshalb hielt diese Regionen auch niemand für überfischt. Mit anderen Worten: In ihrem Referenzrahmen gab es in der Nähe der Küste überhaupt keine Fische. Reiseführer aus den 1930 er Jahren empfahlen die Gegend um den Golf von Kalifornien besonders für Sportangler, da man hier mühelos kapitale Judenfische fangen könne. Wenn man heute die ältesten Fischer danach fragt, können sie sich denn auch erinnern, vor fünfzig oder sechzig Jahren bis zu 25 solcher Tiere am Tag gefangen zu haben, in den sechziger Jahren waren es dann nur noch zehn bis zwölf und in den Neunzigern höchstens noch ein einziger. Während fast alle der ältesten und der mittleren Altersgruppe Judenfische gefangen hatten, waren es unter den Jüngsten nur mehr weniger als die Hälfte, die überhaupt jemals einen gesehen hatten. Und besonders verblüffend ist wieder: Nur zehn Prozent der Jüngsten glaubten, dass hier Bestände verschwunden seien, die meisten dachten, solche Fische hätte es dort niemals gegeben. Und entsprechend fallen mit sinkendem Alter auch die Angaben immer kleiner aus, wenn nach dem größten Fisch gefragt wurde, den man je gefangen hatte.«[2]

Aufgrund dieses Befundes ist es nicht verwunderlich, dass der Rückgang der Artenvielfalt, beispielsweise bei den Fischen, von vielen Menschen nicht wahrgenommen wird bzw. das Problem ziemlich gelassen betrachtet wird. Dieses Phänomen lässt sich auf viele ökologische Veränderungen beziehen. Der anthropogene Klimawandel ist ein Beleg dafür. Unsere Referenzpunkte verändern sich und wir merken nicht, dass unser, auf Wachstum und Ausbeutung von Naturressourcen basierendes Wirtschaftsmodell an seine Grenzen kommt. Wie gesagt: Viele Menschen können sich ein Ende der Welt vorstellen, ein Ende des Kapitalismus scheint vielen Menschen unvorstellbar.

Shifting baselines in der Ökonomie

Auch das kapitalistische Wirtschaftssystem hat sich in den letzten Jahren tiefgreifend verändert. Das deutsche Wirtschaftssystem wird gebetsmühlenartig als Soziale Marktwirtschaft bezeichnet. Dies war bis in die 1980er-Jahre sicherlich richtig. Die letzten 30 Jahre wurden aber durch die neoliberale Theorie geprägt, die durch etliche Thing-Tanks, Stiftungen und Institutionen propagiert und verbreitet wird. Für Deutschland sind folgende Organisationen zu nennen: Friedrich A. von Hayek Gesellschaft, Stiftung Marktwirtschaft, Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, Walter Eucken Institut, Friedrich Naumann Stiftung. Diese Organisationen haben ihre eigene Sichtweise auf die Soziale Marktwirtschaft, die mit den ursprünglichen Inhalten dieser Marktwirtschaft wenig zu tun hat. Diese neoliberale Denkweise kehrt die Soziale Marktwirtschaft tendenziell um, weil die Freiheit des Kapitals propagiert wird und die Arbeitnehmerrechte beschnitten werden.

Dabei war vor über 30 Jahren der Sozialstaat unmittelbar mit der Demokratie und der Sozialen Marktwirtschaft verknüpft. „Der Aufbau des Sozialstaats, der sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in einer mächtigen Bewegung der Vergesellschaftung von Reichtümern ausgedrückt hat (mit öffentlichen Einnahmen, die in den zentralen europäischen Staaten von unter 10 Prozent des Nationaleinkommens vor 1914 auf etwa 40 bis 50 Prozent seit den 1980er Jahren gestiegen sind), ist ein Beleg dafür, dass es durchaus möglich ist, weite Tätigkeitsfelder oder Sektoren jenseits der Marktlogik zu organisieren, namentlich im Gesundheitswesen, aber auch in der Kultur, im Verkehrswesen, im Energiesektor etc.“[3]

Dass in der heutigen Zeit Oligopole und Monopole zunehmend den Markt beherrschen und die Reichtümer der Privatsphäre zugeordnet werden, zeigt, dass die Soziale Marktwirtschaft immer stärker zugunsten einer freien Marktwirtschaft bzw. eines Kapitalismus verändert wurde. Diese Märkte sind aber keine neutralen und der Gesellschaft dienenden Allgemeinplätze, wie sie in der traditionellen Volkswirtschaftslehre gelehrt werden, sondern sie bilden, aufgrund der technologischen Basis, selbst Märkte. Diese Märkte befinden sich im Privatbesitz der Eigentümer von amazon, Google, facebook und Co. Somit haben diese Unternehmen die volle Zugangs- und Preiskontrolle. Diese Kontrollen sind nicht kompatibel mit einem marktwirtschaftlichen System und auch nicht mit einem Sozialstaat.

Der in Frankfurt am Main geborene Peter Thiel, Mitgründer von facebook und paypal, hat ebenfalls mit der Sozialen Marktwirtschaft nichts am Hut. Im Gegenteil, er schreibt in seinem Buch unverblümt, dass die Konkurrenz das Geschäft verdirbt. Dem brutalen Überlebenskampf des Wettbewerbs entkomme ein Unternehmen nur, wenn es sich eine komfortable Monopolstellung aufbaue.

[1] Vgl. Harald Welzer, Klimakriege, Frankfurt am Main, 2009, S. 214

[2] Harald Welzer, Klimakriege, Frankfurt am Main, 2009, S. 215 / 216

[3] Thomas Piketty, Mehr Gleichheit wagen!, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10`22, Berlin, 2022, S. 46

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