Die großen Erzählungen in der Modernen

07. Mai 2022

„Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“ (Albert Einstein)

Die modernen Begriffe, wie Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Effizienz, Beschleunigung, Dynamisierung und Klimaneutralität, werden immer inflationärer gebraucht. Nun soll die Bundeswehr mit 100 Mrd. Euro ausgestattet werden und es wird behauptet, dass es sich um ein „Sondervermögen“  handelt. Man möchte meinen, dass der Finanzminister noch irgendwo 100 Mrd. Euro „rumliegen“ hat. Dabei sollen Schulden über diesen Betrag aufgenommen werden.[1] Dieser „moderne“ Sprachgebrauch irritiert mich. Was ist daran modern? „Die Moderne ist prinzipiell eine Gesellschaft in der Dauerrevision und daher auch in der Dauerkrise; der Prozess des immer wieder neuen An- und Abschwellens diverser Krisenmomente ist fester Bestandteil ihres Existenzmodus.“[2]

Die Ökonomie

Gerade das ökonomische Narrativ ist keineswegs modern, sondern uralt. Kurz gefasst lautet es: Wir benötigen das Wirtschaftswachstum, um Arbeitsplätze zu erhalten und zu vermehren. Wenn das Wachstum ausbleibt, müssen Betriebe schließen, dadurch sinken die Steuereinnahmen des Staates, während gleichzeitig steigende Sozialleistungen, Subventionen und Infrastrukturmaßnahmen fällig werden. Die politischen Gestaltungsmöglichkeiten werden enger und die Altersversorgung, das Bildungs- und Gesundheitssystem werden nicht mehr ausreichend versorgt und das Gesamtsystem steuert in eine Krise. Ohne Wirtschaftswachstum ist die Krise vorprogrammiert.

Dies ist das „normale“ Schreckensgespenst, dass in gleicher oder ähnlicher Form permanent erzählt wird. Aus diesen Überlegungen wird grundsätzlich ausgeblendet, dass das Wirtschaftswachstum der Krisenverursacher sein könnte. Im letzten Blog, Geld-Ware-Geld`, habe ich verdeutlicht, wie die Steigerungslogik des wirtschaftlichen Wachstums zustande kommt. Das System ist also darauf ausgelegt, einer Bevölkerung, die bereits übergewichtig ist, einzureden, man müsse noch mehr essen. Die Automobilindustrie muss ständig neue Autos produzieren und verkaufen, obwohl schon fast jeder Erwachsene in Deutschland ein Auto besitzt. Die Produktion eines Autos verschlingt mehr Energie als der Gebrauch des Autos.  Aber die ökologischen Schäden spielen keine Rolle, schließlich geht es ja angeblich um Arbeitsplätze. Aber geht es wirklich um die Arbeitsplätze oder doch vielmehr um die Kapitalvermehrung?[3]

Charaktermasken 

Marx begriff das Kapital nicht als Besitz, sondern vielmehr als einen Prozess, mit der Konsequenz, dass jeder Kapitaleigentümer oder Kapitalist dem Zwangsgesetz der Konkurrenz unterliegt. Er wird gewissermaßen von seinen Mitbewerbern getrieben, immer mehr und schneller zu produzieren. Deshalb bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Gewinn zu steigern, indem er permanent sein Kapital vermehrt und in neue und bessere Maschinen investiert. Er ist kein autonomer, freier und souverän handelnder Mensch in einer freien Marktwirtschaft, sondern er wird von der Konkurrenz gewissermaßen gezwungen, sein Kapital zu vermehren. Marx nennt diesen Prozess Kapitalakkumulation. Der Kapitalist kann aus diesem Prozess nicht aussteigen. Tut er es trotzdem, wird er untergehen. Die Kapitalisten und auch die Arbeiter werden bei Marx Charaktermasken genannt. Dies ist keineswegs bösartig zu verstehen, denn alle Beteiligten sind in feste (maskenähnlichen) Strukturen eingebunden. Der Kapitalist ist Träger einer Rolle, die er spielen muss, um in diesem System zu bestehen. Es macht keinen Sinn, einem Kapitalisten zu empfehlen, nicht so gierig zu sein und sich mit dem zu begnügen, was man hat. Daraus folgt lediglich, dass das Gesetz der Konkurrenz den genannten Kapitalisten »vernichtet«. Er ist gewissermaßen „verpflichtet“ zu investieren und noch mehr Mehrwert zu schaffen. Der einzelne Unternehmer ist nur ein kleines Rad im Getriebe, der den Zwängen des „freien“ Marktes unterliegt. Er mag sich und seine Entscheidungen als sehr wichtig ansehen, er mag sich auch ökologisch und nachhaltig verhalten, trotzdem ist er „nur ein Vollstrecker der permanenten Verwertung«.[4] Das Wirtschaftssystem selbst kann sich nicht ändern, da es gefangen ist „in den Fesseln seiner eigenen Vorgaben“ (Manfred Folkers). Nur die Menschen können Änderungen im Wirtschaftssystem herbeiführen. Seit Anbeginn der Menschheit hat es Märkte gegeben. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, weil Märkte, im Gegensatz zu einer  Zentralverwaltungswirtschaft, gut geeignet sind, die Güterverteilung vorzunehmen. Aber – In der heutigen Zeit dominiert das Kapital die Wirtschaft und die Menschheit leidet unter dem Diktat der, kaum regulierten, Finanzmärkte.

Wir müssen die Kapitallogik hinter uns lassen

Eine große Erzählung wäre, wenn Unternehmer die endogene Systemlogik erkennen, diesen Wettbewerbszwang kritisieren und die negativen Seiten darstellen würden. Die Unternehmer haben aber weder mit dem System noch mit dem Wettbewerb Probleme, denn dem Kapital ist es egal, wo es sich in der Welt aufhält und wie die Rendite zustande kommt. Trotzdem, die Untersuchung des Ist-Zustandes könnte den Blick weiten und Tore öffnen für eine nachhaltige und moderne Gemeinwohlökonomie, die diesen Namen auch verdient. Stattdessen wird ein „freier“ Markt verteidigt, der durch exogene Größen wie Bevölkerungswachstum, Corona-Krise oder militärische Bedrohung gekennzeichnet ist und der keineswegs frei von Zwängen ist. Der Zwang wird im Kapitalismus indirekt über die Logik dieses Wirtschaftssystems ausgeübt. Zielführender wäre es, die kapitalistische Steigerungslogik für die ökologischen und humanitären Katastrophen verantwortlich zu machen und damit für den Erhalt der Zivilisation einzutreten.

Die kleinteiligen Häppchen

Die Volkswirtschaftslehre erkennt nicht den Wald, sondern nur die einzelnen Bäume. Da die traditionelle Volkswirtschaftslehre den Wald als ausbeutbares Objekt begreift, wird sie selbst das ökologische Zusammenspiel der einzelnen Bäume nicht einschätzen können. Der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard beschrieb im Jahre 1979 in seinem Buch Das postmoderne Wissen schon das »Ende der großen Erzählungen«. „Die großen Theorien gesellschaftlicher Entwicklung, welche die klassische Moderne prägten, hätten in der Postmoderne an Kredit verloren, gefragt seien nur mehr die »kleinen Erzählungen«, die spezifischen Analysen: lokal, zeitlich und sachlich begrenzt.“[5] Also beschäftigen wir uns mit Plastikstrohhalmen, Plastikbecher und Jutebeutel. Die großen strukturellen Probleme, die direkt in die Katastrophe führen, werden ausgespart. Die Fokussierung auf mikroskopische Lösungen führen nur zu der beruhigenden Annahme, dass eine kleine Lösung auch ein kleines Problem beinhaltet.

Obwohl das Internet global agiert und Informationen in „Echtzeit“ weitergegeben werden, bleiben die Informationen im World-Wide-Web zwar aktuell, sie werden aber oftmals in kleinteiligen Häppchen angeboten. Es finden zwar öffentliche Debatten statt, sie werden aber nur in den Mikroöffentlichkeiten geführt, die sich einer bestimmten Gruppe zugehörig fühlen. Tiefgreifende und übergreifende Zusammenhänge, gesellschaftliche, ökonomische und historische Entwicklungen werden verkürzt und simplifiziert dargestellt. Man schreibt, wie man spricht und die Regeln der Schriftsprache werden häufig missachtet. Bestenfalls dominiert der Faktencheck den öffentlichen Diskurs, zielführende und „realistische Utopien“, die in Richtung Gemeinwohlökonomie und Postwachstumsstrategien zielen, führen ein Schattendasein in der Öffentlichkeit. Eine Postwachstumsgesellschaft kann indes nur zustande kommen, wenn das Wirtschaftssystem grundlegend reformiert wird. Dieses ist aber nicht zu realisieren, wenn der wachsende Konsum von Materie und Energie als moderne Phänomene gedeutet werden.

forever young

Die Sängerin Suzanne Vega attestierte dem Literaturnobelpreisträger Bob Dylan eine zeitlose Wahrhaftigkeit, weil er in seinen Liedern nie, es gibt seltene Ausnahmen, auf Tagesereignisse eingeht und sich nicht an einer konkreten Regierung abarbeitet. „Jedes Mal, wenn man versucht über ein bestimmtes Ereignis zu schreiben, ist es wichtig, eine Metapher zu finden, die bis in alle Ewigkeit Gültigkeit hat.“[6] Deshalb lässt sich beispielsweise der Dylan-Song aus dem Jahre 1963, Masters of war, nicht nur als Beschreibung für den Vietnam-Krieg interpretieren, sondern er ist auch noch in der heutigen Zeit hochaktuell und wird vermutlich immer aktuell bleiben. Dieses Lied aus den 1960er-Jahren ist, wie so viele Dylan-Songs, sehr modern und eine große Erzählung.

[1] Sonja Alvarez und Max Biederbeck berichteten in der Wirtschaftswoche vom 05.April 2022, dass der Bundesrechnungshof (BRH) vor Defiziten und falschen Prioritäten warnt. Der Bundesrechnungshofpräsident Kay Scheller führte aus, dass ein Sondervermögen Intransparenz schaffe. Haushaltswahrheit und -klarheit würden vernebelt und die Schuldenregel wird unterlaufen. Neben der Verschuldung warnt der BRH eindringlich vor weiteren Korruptionsvorfällen bei der Beschaffung durch das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr. Der BRH stuft von den 7.000 Dienstposten 2.400 Dienstposten als besonders korruptionsgefährdet ein.

[2] Andreas Reckwitz / Hartmut Rosa, Spätmoderne in der Krise, Berlin, 2021, S.119

[3] Harald Welzer meinte in einem Freitag-Interview vom 28.10.2021 dazu: „Mir ist gar nicht einsehbar, warum eine hoch bezahlte Wissenschaft wie die Ökonomie nicht mehr zusammenbringt als eine Kapitalismustheorie, die besagt, dass der Kapitalismus funktioniert wie ein Fahrrad. Sobald ich aufhöre zu treten, kippt das Ding um. Das ist doch echt ein bisschen wenig. Wir hatten 200.000 Jahre Menschheitsgeschichte ohne Wachstum in dem heute definierten Sinne. In dieser Zeit sind ziemlich viele Sachen erfunden und verbessert worden.“

[4]  Ulrike Hermann, Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung, Frankfurt / Main, 2016, S. 123

[5] Andreas Reckwitz / Hartmut Rosa, Spätmoderne in der Krise, Berlin, 2021, S.11

[6] Stefan Aust / Martin Scholz, Forever young, Unsere Geschichte mit Bob Dylan, Hamburg, 2021, S. 223

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