„Das Bruttosozialprodukt […] misst, kurz gesagt, alles, mit Ausnahme dessen, was das Leben lebenswert macht.“
Senator Robert F. Kennedy
 Die Vor- und Nachteile des Wirtschaftswachstums habe ich in den drei Blogs (1. Teil, 2.Teil und 3.Teil) bereits dargestellt. Das nachfolgende Beispiel verdeutlicht, warum die Wachstumsraten tendenziell sinken und deshalb gebetsmühlenartig immer neues Wachstum von den ökonomischen Akteuren gefordert wird. Mehr Wachstum führt zu einer vermehrten Naturausbeute. „Die scheinbare Gesundheit unserer Ökonomien heute basiert darauf, zukünftige Generationen Naturreichtum wegzunehmen. Genau das machen die Ölfirmen, die uns durch Mikro-Konsum-Verhalten und CO2-Abdruck abzulenken versuchen. Dieser Diebstahl an der Zukunft ist derzeit der Motor des Wirtschaftswachstums.“[1] Fraglich ist, ob wir ökonomisch dieses Wachstum benötigen?
Ein Beispiel
Zur Vereinfachung soll unser gedachter Betrieb, der beispielsweise aus der Energie-Branche kommt, die gesamte Volkswirtschaft repräsentieren. Dieser Betrieb ist in einer größeren Stadt ansässig, stellt Ölheizungen her und verkauft in einem Jahr 5.000 Heizungen. Dieser Verkauf findet jedes Jahr statt. Immer mehr Häuser werden mit den Heizungen ausgestattet. Die Volkswirte dieser Stadt stellen fest, dass kein Wirtschaftswachstum stattfindet. Da jedes Jahr 5.000 Ölheizungen verkauft werden, erscheint das Horrorgespenst einer jeden Wirtschaft: Nullwachstum. Da die Effizienz der Heizungen sich energietechnisch verbessert hat, benötigt die Bevölkerung nur noch 4.000 Heizungen, um den Energiebedarf unverändert zu decken. Jetzt kommt es für die Wirtschaft knüppeldick, das schädliche, negative Wirtschaftswachstum kommt ins Spiel, obwohl die Energieversorgung für die Bevölkerung nicht schlechter geworden ist. Die Börsen malen ein dunkles Bild und es wird eine düstere Zukunft prognostiziert. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass ein Wirtschaftswachstum von den Volkswirten dann positiv bewertet wird, wenn die Bevölkerung im ersten Jahr 5.000 Heizungen, im zweiten 5.500, im dritten 6.000 im vierten 6.500 usw. kauft und gleichzeitig immer mehr Energie verbraucht. Mit diesen Zahlen kann jetzt ein Wirtschaftswachstum berechnet werden. Die Wachstumsrate beträgt vom ersten zum zweiten Jahr 10%, vom zweiten zum dritten Jahr 9,0909%, vom dritten zum vierten Jahr 8,3333% vom vierten zum fünften Jahr 7,6923% usw. Obwohl die absolute Steigerungsrate jedes Jahr 500 Panels beträgt und sich nicht verändert, nimmt die Wachstumsrate kontinuierlich ab. In Anlehnung an Karl Marx könnte man von dem tendenziellen Fall der Wachstumsrate (Marx; Profitrate) sprechen.
Auch wenn die Politikerinnen und Politiker in der aktuellen, vierten Corona-Welle wiederholt den Eindruck vermitteln, die Gesetze des exponentiellen Wachstums noch immer nicht verstanden haben, benötigen wir bei diesen ökonomischen Wachstumsraten nur die einfache Mathematik, genauer gesagt die Dreisatz- oder Prozentrechnung. Wenn wir im Dreisatz den Antwortsatz, also den dritten Satz, bilden, stellen wir fest, dass der Nenner im Bruch immer größer wird. Das hat zur Folge, dass die Zahl, die sich aus dem Verhältnis Zähler : Nenner ergibt, immer kleiner wird. Somit nehmen die Wachstumsraten ab, obwohl wir jedes Jahr 500 Ölheizungen mehr produzieren. Je größer die Grundlage (sprich der Nenner), desto kleiner die Wachstumsrate.
Daraus folgt, dass die Wachstumsrate von den Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft überschätzt wird. Prinzipiell benötigen wir diese Wachstumsraten nicht, um ein gutes Leben zu führen. Wir benötigen sie ausschließlich, um die Reichen noch reicher zu machen.
Natürlich müssen wir die erneuerbaren Energien fördern, und zwar schnell und konsequent. Insofern ist gegen ein Wachstum von beispielsweise Solar-Panels nichts einzuwenden. Ein gut gemachter Klimaschutz wird sogar die Energiepreise senken und das Wirtschaftswachstum in diesem Sektor ankurbeln. Das Wirtschaftswachstum muss differenziert betrachtet werden und Waren, wie beispielsweise die genannte Ölheizung, sind vom Markt zu verbannen. Die Schäden, die durch den wachsenden Ressourcenverbrauch und der damit zusammenhängenden Naturbedrohung (Umweltverschmutzung, Artensterben und Klimawandel) entstehen, sind für den Planeten irgendwann nicht mehr tragbar. Die Lebensqualität nimmt also durch ein Nullwachstum nicht ab. Wir haben in dieser Situation genauso viele Waren zur Verfügung wie im Vorjahr.
[1] George Mobiot, Jutebeutel und Papp-Strohhalm retten uns nicht, in: der Freitag, Nr. 45 vom 11,11.2021, S.7