Tote vs. lebendiger Masse

07. November 2021

„Der Tod ist ein Problem der Lebenden. Tote Menschen haben keine Probleme.“

(Norbert Elias)

In sehr vielen Blogs habe ich auf dieser Homepage Fakten zu der kommenden Klimakatastrophe zusammengetragen. Die Faktenlage ist glasklar und nun müssen fundamentale Veränderungen in vielen gesellschaftlichen Bereichen stattfinden. Fast unbemerkt meldete der Bayerische Rundfunk am 09.12.2020: „Von Menschen produzierte Masse übersteigt 2020 erstmals Biomasse.“  Als Ökonom möchte ich noch auf einen wichtigen Sachverhalt hinweisen, den ich bereits mit der Skizzierung des Wirtschaftskreislaufs am 10. April 2019  dargestellt habe. Um es noch einmal zu verdeutlichen – alle, und wirklich alle, materiellen Güter (Computer, Smartphone, Autos, Maschinen, Nahrung, Häuser usw. usf.) kommen von oder aus der Erde respektive der Natur. Diese anthropogene tote Masse in Form von Konsumgütern nimmt sehr stark zu, während die Biomasse sehr stark abnimmt. „Die Masse der von Menschen hergestellten Objekten hat sich seit 1900 etwa alle 20 Jahre verdoppelt“[1] und sie nimmt seit der neoliberalen Wende der 1990 er Jahre extrem zu. Die Biomasse hingegen ist in den letzten 50 Jahren stark rückläufig. Die natürliche Welt schwindet, während die künstliche Welt zunimmt. Irgendwann werden wir feststellen, dass wir den aktuell begehrten „Rohstoff“, nämlich die Daten, nicht essen können. Es gibt kein virtuelles Leben.

Die Umweltbedingungen verändern sich

Die Natur benötigt weder den menschengemachten Naturschutz noch muss die Umwelt geschont werden. Da unser „Wohlstand“ aus der Natur kommt, stellt sich vielmehr die Frage, wie lange die Natur es uns gestattet, sie weiter unbarmherzig auszubeuten? In den Zeitungen liest man vermehrt folgende Überschriften: „Wir müssen die Natur retten“, „Die Umwelt muss geschützt werden“ oder „Der Erde geht es nicht gut“. Diese Überschriften verschleiern die Sachlage. Es muss vielmehr verdeutlich werden, dass die Umweltbedingungen für den Menschen sehr gefährlich werden. Die Erde existiert knapp 4 Mrd. Jahre und sie hat während ihrer Existenz ganz andere biosphärischen Katastrophen erlebt und auch überstanden. Der Erde ist es vollkommen egal ob Menschen darauf leben oder nicht. Ohne intensiven Schutz der Biomasse und gleichzeitigem Zurückfahren der menschlich gemachten Masse, wird „die anthropogene Phase im planetarischen Grundrauschen [untergehen] und niemand außerhalb der Erde wird das überhaupt zur Kenntnis nehmen“ (Jochen Hanisch). Die ökonomische Lehre unterschlägt systematisch, dass alles Materielle aus der Natur kommt und dass wir Menschen selbst Natur sind. Wer die Natur vernichtet, vernichtet sich selbst. „Vielleicht beginnt der Fehler schon damit, die Natur für den Hintergrund zu halten. Als sei uns Menschen eine unverrückbare Bühne gebaut worden, als seien wir gar nicht aus demselben Holz.“[2]

Am Anfang waren die Pflanzen

Urgeschichtlich betrachtet entstand die lebendige Materie aus den Pflanzen. Aus der ökonomischen Sichtweise repräsentiert die Gesamtheit der Pflanzen die primäre Produktion, die scheinbar dazu bestimmt ist, von Menschen und Tieren konsumiert zu werden, also findet eine permanente Umwandlung von lebendiger in tote Masse statt. Bei diesem Umwandlungsmechanismus, oder sollte man treffender von einem Vernichtungsprozess sprechen, müssen Ökonomen viel stärker die Thermodynamischen Gesetze beachten und die Politik sollte aufhören, die Natur in Parlamenten zu verhandeln. Mit der Natur lässt sich nicht verhandeln, es müssen durchgreifende und zielführende Gesetze und auch Verbote durchgesetzt werden. Wenn Kipppunkte überschritten sind, gibt es keine Umkehr. Da wir inzwischen mehr tote als lebendige Materie „produziert“ haben, ist dieser Kipppunkt schon lange erreicht. Leider sind viele Politikerinnen und Politiker auf diesem Auge blind und unterschlagen sukzessive einen Teil der Wahrheit.

Die Springquellen des Reichtums

„Jeder Fortschritt in der Steigerung der Fruchtbarkeit des Bodens für eine gegebene Zeitfrist ist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. Je mehr ein Land (…) von der großen Industrie als dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, desto rascher dieser Zerstörungsprozess. Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und die Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“[3]

Dieses Zitat nahm Harald Welzer zum Anlass, sowohl „Die Linken“ als auch „Die Grünen“ ins Stammbuch zu schreiben, dass beide Parteien scheinbar nur den halben Marx gelesen haben. Der ökologische Teil wird von den Grünen vereinnahmt, während der Produktionsprozess von den Linken bedient wird. Dies ist aber nichts Neues. Schon vor langer Zeit hat man die Lehren von Karl Marx zum Selbstbedienungsladen erklärt. Sowohl Marx-Gegner als auch Marx-Befürworter nehmen sich häppchenweise, was sie für ihre Argumentation brauchen. Warum können viele Politikerinnen und Politiker, wie im oben genannten Marx-Zitat, tote und lebendige Masse nicht zusammen denken? Die Konsequenz aus dieser Unterlassung ist, dass Ursache-Wirkungs-Ketten bis zur Unkenntlichkeit verwässert werden und die Dramatik bei weiten Bevölkerungsteilen nicht ankommt respektive die Mehrzahl der Bevölkerung sieht die Ursachen nicht oder will sie nicht sehen. Die Hauptursache, die den Klimawandel beschleunigt, ist der zunehmende Konsum  der anthropogenen toten Masse.

Der Warenfetischismus

Was hat nun Karl Lagerfeld mit Karl Marx zu tun? Der schnelllebige Modewechsel, auch in der Textilindustrie, beschleunigt den Klimawandel. Die Modeindustrie (z.B. Kleidung, Automobile, Smartphone) hat weltweit eine sehr große Bühne errichtet, um die Waren zu inszenieren, mit dem Ziel, Legenden zu erschaffen, die dann in Konsumtempel vergöttert werden. Die Konsumwünsche scheinen unendlich zu sein und der Warenfetischismus nimmt ständig zu. Karl Marx hat den Warenfetischismus eingehend untersucht und analysierte die quasireligiösen dinglichen Verhältnisse der Produkte. Diesen Waren werden Eigenschaften zugeschrieben, die sie in Wahrheit nicht haben. Es gebe „[…] die der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliche, und aus ihrem Wesen entspringende fetischistische Anschauung, welche ökonomische Formbestimmtheiten, wie Ware zu sein, produktive Arbeit zu sein etc., als den stofflichen Trägern dieser Formbestimmtheiten oder Kategorien an und für sich zukommende Eigenschaft betrachtet.“[4] Solange das produzierende Gewerbe ihre Waren vergöttert und große Teil der Bevölkerung lieber Konsumtempel betreten als in die Natur zu gehen, wird der Klimawandel nicht aufzuhalten sein.

[1] Harald Welzer, Nachruf auf mich selbst, Frankfurt am Main, 2001, S.11

[2] Eva von Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt am Main, 2020, S. 115

[3] Karl Marx, Das Kapital, Band 1, Berlin, 1962, S. 529 ff

[4] Karl Marx: Das Kapital 1.1. Sechstes Kapitel: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses. Die Zusammenfassung des Ersten Bandes des „Kapitals“., Berlin, 2009, S. 131.

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