„Wir sollten bescheiden werden und nicht ständig Goethes Zauberlehrling mimen.“ (Nico Paech)Â
Stilistisch erinnert der Satz der Ampel-Koalitionäre -Mehr Fortschritt wagen- an Willy Brandts Ausspruch von 1969: -Mehr Demokratie wagen-. Inhaltlich erinnert dieser Spruch an die FDP, die sich im Koalitionspapier sehr gut positionieren und wesentliche Aspekte ihrer Politik durchsetzen konnte. In der Ära des Kanzlers Willy Brandt hat die Politik die ökologischen Probleme noch nicht ausreichend erkannt, weil sie auch noch nicht so präsent waren. Heute jedoch werden die ökologischen Probleme von der Politik durchaus wahrgenommen. Das Motto der Ampel – Mehr Fortschritt wagen – suggeriert, dass die ökologischen Probleme durch den technischen Wandel und unter dem Vorbehalt zu lösen sind, dass niemand auf irgendetwas verzichten muss. Im Gegenteil, in vielen Teilen des Ampelvertrages wird beschrieben, dass das sogenannte grüne Wachstum sogar mehr Arbeitsplätze und ein höheres Wirtschaftswachstum erzeugen wird. Können wir uns nun auf eine Zunahme des „grünen“ Wohlstandes freuen?
Wohlstand für alle
In Europa liegt die durchschnittliche CO2-Emission pro Person und pro Kopf bei rund 11 Tonnen pro Jahr. Um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, dürfte der Pro-Kopf-Ausstoß aber maximal 2,7 Tonnen betragen. Wenn dieses Ziel erreicht werden soll, darf der Verzicht nicht ausgeklammert werden. Der ehemalige Wirtschaftsminister Peter Altmeyer (CDU) formulierte im Jahr 2019: „Verzichtsdebatten überzeugen die Menschen nicht.“[1] Dies steht im Widerspruch zu Ludwig Erhard (CDU). Er führte in seinem Buch „Wohlstand für alle“ bereits im Jahr 1964 aus: „Wir werden sogar mit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen, oder ob es nicht sinnvoller ist, unter Verzichtleistung auf diesen »Fortschritt« mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen.“[2] Olaf Scholz formulierte auf dem SPD-Parteitag zur Verabschiedung des Koalitionsvertrags: „Der gemeinsame Konsens dieser Regierung besteht nicht darin, überall Verzicht zu predigen – das tun wir gar nicht -, sondern auf technologischen Fortschritt und dynamisches Unternehmertum zu setzen.“ Die Fortschrittsdefinition des neuen Kanzlers macht sehr deutlich, dass er die gesellschaftliche Transformation ausschließlich an den technologischen Fortschritt koppelt und zugleich suggeriert, dass die ökologischen Probleme auch ohne Verzicht und Einschränkungen lösbar wären. Dies hat mit der erforderlichen Transformation nichts zu tun, weil eine Begrenzung des Wachstums an keiner Stelle des Koalitionsvertrags  thematisiert wird.
Mehr Fortschritt wagen
 Welchen Fortschritt meint Olaf Scholz? Den technischen Fortschritt, Innovationen, die Steigerung des Mobilitäts- und Komfortniveaus oder mehr Besinnung und Muße? Er bleibt nebulös. Im Koalitionsvertrag steht auf Seite 16:
„Wir werden Treiber eines starken Technologiestandorts, der auf europäischen Werten basiert, Talente anzieht sowie Zukunftsfähigkeit und Wohlstand unseres Landes sichert. Investitionen in Künstliche Intelligenz (KI), Quantentechnologien, Cybersicherheit, Distributed-Ledger-Technologie (DLT), Robotik und weitere Zukunftstechnologien stärken wir messbar und setzen Schwerpunkte. Wir stärken strategische Technologiefelder z. B. durch Important Projects of Common European Interest (IPCEIs) und treiben den angekündigten EU Chips Act voran.“
Weiter ist auf Seite 19 zu lesen:
„Deutschland ist Innovationsland. Starke Wissenschaft und Forschung sind dabei die Garanten für Wohlstand, Lebensqualität, sozialen Zusammenhalt und eine nachhaltige Gesellschaft. Wir haben Lust auf Zukunft und den Mut zu Veränderungen, sind offen für Neues und werden neue technologische, digitale, soziale und nachhaltige Innovationskraft entfachen.“
Der Koalitionsvertrag stellt in den Themenbereichen Digitalisierung und Klimawandel den technischen Fortschritt in den Mittelpunkt der Betrachtung. Hier ist die Handschrift der FDP klar zu erkennen. Keine Steuererhöhungen, keine Schulden, keine Bürgerversicherung und auch kein Tempolimit. Der neue Verkehrsminister Volker Wissing wird die von den Grünen angestrebte Verkehrswende kassieren und sie auf eine „Antriebswende“ (Albrecht von Lucke), also die Umstellung vom Verbrenner auf Elektromotoren, reduzieren. Damit hat die Autoindustrie das bekommen, was sie wollte, nämlich ein gigantisches Konjunkturprogramm.
Mehr Wissenschaft wagen
 Natürlich muss man auf den Fortschritt und auf die Wissenschaft setzen. Aber nicht einseitig und blauäugig; im Koalitionsvertrag wird nur und ausschließlich der technische Fortschritt beschrieben. Somit haben sich die Koalitionäre auf den Begriff der Innovation kapriziert; deshalb sollte der Titel des Koalitionsvertrages heißen: -Mehr Innovation wagen-. Dies wäre nicht nur zielführender, sondern auch ehrlicher. Innovationen benötigen keine normativen Referenzen, denn sie sind ja schon gegeben, wenn etwas Neues entstanden ist. Meistens begründet dieses Neue keinen Fortschritt, sondern schafft nur neue Bequemlichkeiten, zum Beispiel energiefressende selbst fahrende Autos, die über eine Vielzahl von Rechnern und Satelliten gesteuert werden.
Wegen der unterkomplexen Auseinandersetzung mit dem Fortschritt haben sich die Grünen der FDP sehr stark angenähert oder annähern müssen. Leider wird ein wesentlicher Aspekt des Fortschrittes, nämlich der Verzicht, vollkommen ausgeblendet. Die Energiewende im Koalitionsvertrag will ein maßloses System erhalten, Green-Growth lautet die Zauberformel. Wäre es nicht fortschrittlicher, einen kulturellen Wandel zu versuchen, der zu einem „menschlichen Maß“ (Leopold Kohr, Fritz Schumacher)[3] führt?  Solch eine Transformation benötigt sehr viel Zeit. Deshalb wäre es sinnvoll, spätestens jetzt in die Diskussion über die Methodik des Aufhörens als Kulturtechnik einzusteigen. Die Teile des Ampelvertrages, die sich mit dem technischen Fortschritt beschäftigen, bieten leider keine Möglichkeiten für solch einen Diskurs. Schade, denn „(w)ir schaffen so eine Welt, wo Teilhabe immer nur mehr Haben als Teilen bedeutet.“[4]
Die Ressourcen reichen für alle Menschen, wenn wir unsere Konsumansprüche ein wenig senken und wenn wir weniger Flächen für Industrie, Energie und Verkehr verbrauchen. Solch ein verstandener Fortschritt könnte ein neues Vorbild für Europa liefern. Davon ist im Ampelvertrag leider kaum die Rede. „Je länger wir uns weigern, die Notwendigkeit einer Reduktionsstrategie anzuerkennen, desto wahrscheinlicher werden Krisen, die uns vor sich hertreiben und uns genau jene Anpassungen abverlangen, die Teil einer Transformation in Richtung Postwachstumsökonomie sind.“[5]
[1] Peter Altmeier zum Thema: Neu denken fürs Klima, in: SCHWARZROTGOLD, Das Magazin der Bundesregierung, 4/2019, S.7.
[2] Ludwig Erhard, Wohlstand für Alle, Düsseldorf, 1964, S. 232 / 233
[3] Schumacher prägte in den 1970er Jahren den Begriff „Small is beautiful“, während Kohr den Slogan „Slow is beautiful“ in seiner Geschwindigkeitstheorie aufnahm.
[4] Hans-Jürgen Burchhardt, Von der Corona- zur Klimakrise: Wer trägt die Lasten für eine bessere Zukunft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12`21, Berlin, 2021, S. 74
[5] Erhard Eppler, Niko Paech, Was Sie da vorhaben, wäre ja eine Revolution…, München, 2016, S. 143/144