„Es scheint wertlos. Den Gewinnern stehen so unweigerlich Verlierer gegenüber, der Aufwertung die Abwertung, die Entwertung.“ (Andreas Reckwitz)
 Lapidar heißt es in einem beliebigen VWL-Buch: Der steigende LKW-Verkehr auf den Straßen macht Menschen krank durch Lärm und Abgase. Die Gesundheitskosten steigen. Diese externen Kosten werden nicht dem Verursacher auferlegt (internalisiert), sondern der Allgemeinheit (über die Krankenkassen). Das aufgewendete Geld steht dem Konsum nicht mehr zur Verfügung.Â
Ich möchte an dieser Stelle auf eine Kritik dieser Aussage verzichten. Etwas besser ist folgende Erklärung: „Der Hauptgrund für die Nichterfassung der externen Kosten ist darin zu sehen, dass die Nutzung des weitgehend „freien Gutes“ Umwelt keinen Preis hat und das Marktsystem somit auch nicht die Knappheit dieses Gutes signalisiert. Vor diesem Hintergrund lenken die Marktsignale die Produzenten und Konsumenten in die falsche Richtung. Der marktwirtschaftliche Selbststeuerungsmechanismus versagt.“ (Boller / Hartmann, Volkswirtschaftslehre – Berufliches Gymnasium, Rinteln, 2011, S. 67)Â
Dieses „Marktversagen“ ist eine der fundamentalen Unmöglichkeiten der ökonomischen Betrachtungsweisen, weil sie konsequent Zeit und Raum, d.h. die Dimensionen der Natur, aus ihrer Theorie ausklammert. Ökonomische Transformationen, also der Verbrauch von Energie und Stoff, haben immer irreversible Effekte auf die Natur. Hierbei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob externe Effekte internalisiert werden können oder nicht. Der Kapitalismus ist grundsätzlich darauf ausgerichtet, das das Rechenwerk für Wohlstand und Wirtschaftswachstum, das Bruttoinlandsprodukt, die sozialen und ökologischen Kosten externalisiert.
Die verursachten ökologischen Schäden werden also, nach der traditionellen Volkswirtschaftslehre, auf Dritte überwälzt. Der Autofahrer stößt CO2 aus, die Allgemeinheit darf dann diesen Schaden reparieren und die Natur stellt ohnehin keine Rechnungen aus. Man könnte meinen, dass „externe Effekte“ verschwinden, indem sie externalisiert werden, schließlich hat man ja Geld dafür bezahlt.[1] Dies scheint trivial zu sein, weil es doch die gelebte „Normalität“ vieler Bürgerinnen und Bürger widerspiegelt. Ist es wirklich so trivial?
Die Externalitätsgesellschaft
Ökonomen beschreiben häufig nur die externen Effekte und wollen von einer umfassenden Externalitätsgesellschaft nichts wissen. Die Soziologie ist da, aus meiner Sicht, viel weiter. In einigen Blogs habe ich den Versuch unternommen, die Sichtweisen der Soziologen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa zu skizzieren. Nachfolgend werde ich mich, mit ein paar sehr groben Pinselstrichen, mit der Erxternalitätsgesellschaft, die der Soziologe Stephan Lessenich in seinem wunderbaren Buch: Neben uns die Sintflut beschreibt, beschäftigen.
Haushalte und Unternehmen wälzen die von ihnen verursachten Umweltschäden auf unbeteiligte Dritte ab. Diese Situation wird nun von Stepan Lessenich auf größere Sozialeinheiten übertragen. Traditionelle Ökonomen glauben, dass die externen Kosten des Klimawandels mit viel Geld und großen Investitionsvorhaben zu bekämpfen sei. Geld scheint ein Allheilmittel zur Beherrschung der Natur zu sein. Volkswirte scheuen davor zurück, Soziologen fassen hingegen den Begriff der „Externalität“ wesentlich weiter als die Ökonomen und sie gehen von einer umfassenden Externalitätsgesellschaft aus, die von der Arbeit und den Ressourcen anderer lebt. Konkret bedeutet der Begriff, dass fremde Ressourcen ausgebeutet werden, dass die Kosten auf Außenstehende überwälzt und im Gegenzug die Gewinne internalisiert werden. Die Externalisierungsgesellschaft gibt es scheinbar schon sehr lange; der Ursprung ist im Kolonialismus zu suchen, als große Teile der Aneignungsprozesse durch Eroberungen in fremden Ländern erfolgten. „Der Umgang, der in der vermeintlich „neuen“ Welt lebenden Menschen mit der Natur wurde dabei als „Nicht-Arbeit“ diskreditiert und das Land somit als „herrenlos“ bestimmt.“[2] So wurde die Basis für die Sklaverei gelegt und die Enteignungen der Ressourcen waren und sind die Grundlage für den technischen Fortschritt der westlichen Welt. Ohne die systematische Ausbeutung der stofflichen Ressourcen in anderen Teilen der Welt würde sich der technische Fortschritt anders darstellen. Da die Steigerungs- und Dynamisierungsgeschichte der Moderne als eine uneingeschränkte Fortschrittsgeschichte erzählt wird, verwundert es nicht, dass die Externalisierungsgesellschaft in der heutigen Zeit als „normal“ angesehen wird, die shifting baslines  lassen grüßen.
Die Ampelregierung garantiert WohlstandÂ
Gerade die neue Bundesregierung betont, dass eine ökologische Wende stattfinden muss, der Wohlstand darf aber in keiner Weise gefährdet werden. Auch das Wohlstandsnarrativ wird als „normal“ empfunden.  Dieser Sachverhalt wird ausschließlich ökonomisch erklärt und impliziert einen reinen materiellen Wohlstand, der sogar die Eigenschaft hat, sich ständig zu vermehren und zu vergrößern. Durch diese Argumentation wird unterschlagen, dass unser Wohlstand unmittelbar mit den Nöten anderer Menschen irgendwo auf der Welt zusammenhängt. Genau dies wird bei jeder Wohlstandsdiskussion verschwiegen. „Den eignen Wohlstand zu wahren, indem man ihn anderen vorenthält, ist das unausgesprochene und uneingestandene Lebensmotto der „fortgeschrittenen“ Gesellschaft im globalen Norden – und ihre kollektive Lebenslüge ist es, die Herrschaft dieses Verteilungsprinzips und die Mechanismen seiner Sicherstellung vor sich selbst zu verleugnen.“[3]  Um diese treffsicheren Aussagen vom renommierten Soziologieprofessor Stephan Lessenich zu relativieren, kommt ein „grüner“ Kapitalismus, wie er im Koalitionsvertrag beschrieben ist, gerade recht. Die Koalitionäre glauben tatsächlich, dass man das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppeln kann,[4] und dass die stofflichen Belastungsgrenzen des Planeten mit einer expansiven Lebensweise in Einklang zu bringen sind. Das Credo der Konsumgesellschaft lautet: alles, immer und überall. Wer alles sofort bekommt, so die herrschende Meinung, ist in der heutigen Zeit privilegiert. Aber – es geht uns gut, weil es anderen schlecht geht. Dies trifft im Weltmaßstab in jedem Fall für den globalen Norden zu. Die hochindustriellen Gesellschaften lagern ihre negativen Effekte auf die ärmere Weltbevölkerung aus.
Externalisierungsgesellschaften sind nicht bekümmert, wenn der Rohstoff Neodym[5], den wir für die Magnetherstellung unserer getriebelosen Windkraftwerke benötigen, aus umweltschädigenden Produktionen kommt. Ob umweltverschmutzender Uranabbau, Müllentsorgung in Afrika[6] oder Hungerlöhne in der Bekleidungsherstellung in Bangladesch, die Externalisierungsgesellschaft schließt die Augen und meint, dass wir damit nichts oder wenig zu tun haben. Das sind die Probleme anderer Länder und außerdem regelt das doch der Markt.  Die gängigen Wirtschaftstheorien gehen wie selbstverständlich davon aus, dass externe Effekte auch internalisiert werden können, weil der Preis schließlich „die Wahrheit sagt“. Dies ist aber viel zu kurz gedacht, denn die soziale Welt und die wechselseitigen Beziehungen der Menschen richten sich nicht nach Marktprinzipien. Selbst bei der Internalisierung externer Kosten ist der Markt überfordert.
Der real existierende Kapitalismus
Der real existierende Kapitalismus war von Anfang an auf Expansion, Natur- und Menschenausbeutung und auf Grenzüberschreitungen ausgelegt. Er muss sich zwangsweise immer wieder „ein neues Terrain“ (Karl Marx) schaffen und die „ganze Welt“ wird zu seinem Revier. Er muss sich ausbreiten, alles verwerten, er kennt keine immanenten Grenzen. Dabei geht es aber niemals um die Sache, dieses System ist auf die Logik der ökonomischen Reproduktion und die Durchsetzung von Interessen begründet. Zu dieser Logik passt so gar nicht der Verzichtsbegriff. „Verzicht ist in den Augen der spätmodernen Subjektkultur etwas Negatives, ja geradezu Pathologisches. Es scheint der Grundsatz zu gelten: Es muss in diesem, eigenen Leben auch das gelebt werden, was im menschlichen Leben insgesamt (er)lesbar ist.“[7] Deshalb hat Stephan Lessenich vollkommen recht, wenn er schreibt, dass „wir (…) nicht über unsere Verhältnisse (leben). Wir leben über die Verhältnisse der anderen.“
Der Lebensstil des globalen Nordens basiert auf zwei Lebenslügen: Zum einen glaubt man daran, dass Ressourcen unendlich vorhanden sind.[8] Falls die Ressourcen zur Neige gehen sollten, kann dies mit Technik und Fortschritt überwunden werden. Insofern braucht man nicht über Wachstumsgrenzen nachdenken. Die zweite Lebenslüge bezieht sich auf das Selbstbild des globalen Nordens. Wenn die Länder des globalen Südens sich anstrengen, könnten sie ebenfalls so erfolgreich sein wie die Länder des globalen Nordens. Hierbei wird übersehen, dass die Basis für den materiellen Wohlstand schon vergeben sind. Überspitzt kann man formulieren, dass es uns so gut geht, weil es den anderen schlecht geht.
Die Beherrschung und die Ausbeutung von Natur und Mensch ist das Wesen der Externalitätsgesellschaft. Die dazugehörige Wirtschaftsordnung, der Kapitalismus, wird als natürlich Ordnung der Welt wahrgenommen und die Existenz von jeglicher Art der Ausbeutung von Mensch und Natur und der Entfremdung löst kein Verlangen nach Überwindung mehr aus. Viele Menschen spüren aber intuitiv, dass es nicht nur um die geografischen Grenzen im territorialen Raum geht, sondern auch um die Zeit. „Alles wird getan, um die Zeit durch Beschleunigung dem Grenzwert Null anzunähern. Denn nur durch Beschleunigung aller Prozesse lässt sich die Produktivität steigern. Mehr Produkte in der gleichen Zeiteinheit oder die gleiche Menge von Produkten in geringerer, komprimierter (Arbeits)zeit. Das ist das Geheimnis der Steigerung des Wohlstands der Nationen.“[9] Natürlich ist es in diesem Zusammenhang unstrittig, dass eine große Mehrheit der Externalitätsgesellschaft auch Verlustängste haben. Dies wäre ein Thema für einen zukünftigen Blog.
[1] „Wenn man die externen Effekte ernst nähme, müsste man zu dem Schluss kommen, dass die Natur tatsächlich keine bloße Ansammlung von mehr oder weniger nützlichen Ressourcen ist, sondern eine außerordentlich komplexe Gesamtheit von Mensch-Natur-Beziehungen, die die Ökonomie strukturiert.“ (Elmar Altvater, Das Ende des Kapitalismus, Münster, 2018, S. 106)
[2] Eva von Redecker, Revolution für das Leben, Frankfurt am Main, 2020, S. 25
[3] Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut, München, 2018, S. 19
[4] Diese Lektion musste der damalige Umweltminister und spätere Wirtschaftsminister Peter Altmeyer auch erst „lernen“. „Kinder, Betrunkene und neu ins Amt berufene Minister sagen die Wahrheit. So war der zufällig Bundesumweltminister gewordene CDU-Politiker Peter Altmaier erstaunt, als ihm gleich nach Amtsantritt der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) eine Studie vorlegte und damit die Forderung an die Regierung verband, sie möge doch bitte dafür sorgen, dass künftig das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppelt werde. Altmaier sagte verlegen lächelnd, das höre sich ja gut an, er könne sich aber nicht recht vorstellen, wie das gehen solle. Mit diesem Zweifel lag der Minister in der Sache durchaus richtig, aber schon wenige Wochen später, auf dem Weltrettungsgipfel „Rio +20“ im Juni 2012, konnte er bereits mitteilen, dass die Zukunft der Erde gefährdet sei, wenn man das Wirtschaftswachstum nicht vom Ressourcenverbrauch entkoppele.“ (Harald Welzer, Selbst Denken, Frankfurt am Main, 2013, S. 109 /110)
[5] Neodym (NdFeB) gehört zu den Seltenen Erden und wird für die Magnetproduktion benötigt. Die Förderung ist sehr schwierig und umweltbelastend, da Neodym aus anderen Verbindungen ausgelöst werden muss. Nach Recherchen des NDR im Jahr 2011 erzeugt die Förderung von Neodym enorme Umweltschäden, weil giftige Abfallstoffe und radioaktive Nebenstoffen freigesetzt werden.
[6]Die westliche Welt regt sich über die Plastikflut in den Weltmeeren auf. Dabei wird genau dieser Plastikmüll zur „Entsorgung“ in alle möglichen Länder geschickt, dann sind wir ihn los und haben damit nichts mehr zu tun. Sehr praktisch. Gleichzeitig ermahnen wir diese Länder, dass sie doch ein modernes Abfallmanagement einführen sollen. Wie zynisch kann man eigentlich sein?
[7] Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen, Berlin, 2020, S. 229 /230
[8] Gerade der abscheuliche und menschenverachtende Krieg in der Ukraine zeigt deutlich, dass die Ressourcen Erdgas und Erdöl eine zentrale Rolle spielen. Vielen Menschen wird auf einmal bewusst, dass diese Rohstoffe endlich sind.
[9] Elmar Altvater, Das Ende des Kapitalismus, Münster, 2018, S. 60