„Das Gefühl, Teil einer Minderheit zu sein, verleiht einem mehr Mitgefühl für andere Menschen, die keine Insider sind, sondern Outsider.“
(Ruth Bader Ginsburg, am 18.09.2020 verstorbene US-Verfassungsrichterin)
 Über meinem Schreibtisch hängt noch immer, seit nunmehr 43 Jahren, ein Poster mit einer „Schmähschrift“ von Ernst Bloch und sie ist nach wie vor hochaktuell. Ernst Bloch stellt die da oben als moralisch verkommene Wesen dar und die da unten möchten so sein wie die da oben. Während Armut in der Öffentlichkeit  permanent dargestellt und diskutiert wird, verstecken sich die Reichen und sie wohnen und bewegen sich in sogenannten Gated Communitys. Genau genommen leben die Reichen in einer Parallelgesellschaft und es handelt sich häufig um Integrationsunwillige, die auf die menschliche Gesellschaft wenig Wert legen und arme Menschen als „sozial schwach“ bezeichnen. Dabei ist unter reichen Menschen die soziale Schwachheit besonders ausgeprägt, weil gerade diese Bevölkerungsgruppe sich selten um den solidarischen Ausgleich kümmert. Sie bezeichnen sich aber gerne als Leistungsträger, während ärmere Menschen als Leistungsempfänger gelten. Leistungsträger sind in ihrem ökonomischen Denken häufig sehr eingeschränkt, weil sie nur eine Alternative zum Kapitalismus kennen – die Zentralverwaltungswirtschaft oder auch Planwirtschaft genannt. [1] Deshalb sind sie für den Kapitalismus und scheinbar gegen Enteignungen. An dieser Stelle wird es aber ambivalent, weil eine Kapitalenteignung ausgeschlossen wird, eine Enteignung, die dem Kapitalinteresse dient, hingegen vehement befürwortet wird. Denn die Effizienz[2] privatwirtschaftlicher Verrichtungen bezieht sich ausschließlich auf die renditeträchtige Kapitalverwertung. Um dem Kapital zu dienen, benötigt jede kapitalistische Wirtschaft demzufolge Enteignungen. Um große und gewinnbringende Infrastruktureinheiten zu planen und zu bauen, wird, ohne mit der Wimper zu zucken, enteignet. Ob Braunkohletagebau oder Autobahnbau – der Rubel muss rollen und Kapital ist ein ruheloser Geist. Es muss „zirkulieren und sich immer wieder in Geld verwandeln um der Wert zu verwerten“. (Elmar Altvater)
Eigentum verpflichtet
Der Artikel 14 des Grundgesetzes besagt, dass „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Das Problem ist aber, dass sich das „Allgemeinwohl“ häufig nicht auf die Gesellschaft bezieht, sondern auf die Einzelinteressen bestimmter Unternehmen. Einzelinteressen lassen sich nicht objektiv bestimmen, sondern sie sind immer das Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Die Deutungshoheit ist in der herrschenden Ideologie zu verorten und der immer größer werdende Unterschied zwischen arm und reich ist weder ein Naturereignis noch entspringt er einer „Neid-Debatte“, sondern der Unterschied ist von Menschen gemacht.
Der Artikel 14 des Grundgesetzes besagt aber auch, „das Eigentum und das Erbrecht gewährleistet werden.“ In Deutschland werden jährlich bis zu 400 Milliarden Euro vererbt. Die Bundesregierung schließt eine Reform des Erbrechts kategorisch aus. Solch eine Reform könnte beispielsweise nach dem Modell der amerikanischen Steuerstaatsbürgerschaft entwickelt werden. Jeder, der einen amerikanischen Pass hat, zahlt auch in Amerika Steuern. Natürlich kann jeder amerikanische Bürger auch seinen Pass abgeben, dann wird eine sogenannte Exit-Tax fällig. Diese Ausstiegssteuer beträgt gegenwärtig knapp über 20 Prozent des Vermögens. Damit wird das Abwandern von Steuereinkommen sanktioniert. Merkwürdigerweise akzeptieren auch die reichen Amerikaner die Konstruktion des Steuerstaatsbürgers. Scheinbar ist es aber auch in Amerika möglich, die Steuern zu umgehen. Letzte Woche konnte der Nachweis erbracht werden, dass Donald Trump über Jahrzehnte hinweg keine, oder nur eine viel zu geringe, Einkommensteuer gezahlt hat. Trotzdem sollte man in Deutschland über eine Einführung einer Exit-Tax nachdenken, auch wenn die einflussreiche Lobbyorganisation „Bund der Steuerzahler“ die Alarmglocken schlägt.  Diese Lobbyorganisation verstummt hingegen, wenn Friede Springer, wie diese Woche geschehen, dem Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer SE, Mathias Döpfner, 15 Prozent der Unternehmensaktien schenkt, natürlich steuerfrei. Der Wert wird auf circa eine Milliarde Euro taxiert. Warum ist das Privileg für die Übertragung von Unternehmensvermögen in Deutschland unantastbar?
Die GAFA-Unternehmen
Seit jeher ist die Steuervermeidung ein Privileg der Reichen. Die größten Steuervermeider in Deutschland sind amerikanische Firmen wie Amazon, Google, Facebook und Apple, die sogenannten GAFA-Unternehmen. Wenn der überproportionale Vermögenszuwachs von beispielsweise Jeff Bezos (Chef von Amazon) in der Corona-Krise betrachtet wird, kommt man zu dem Schluss, dass dieser Mann in 16 Sekunden so viel „verdient“ wie eine Kranken- oder Altenpflegerin pro Jahr. In 100 Minuten hat Jeff Bezos genauso viel „geleistet“ wie eine Krankenpflegerin in 40 Jahren. Ist nun die Krankenpflegerin eine „Minderleisterin“[3]? Selbstverständlich zahlt die unterbezahlte, aber leistungsstarke, Krankenpflegerin, im Gegensatz zum überbezahlten Jeff Bezos, auch noch Steuern in Deutschland. Stimmt unser gesellschaftliches Werteverhältnis noch oder läuft hier etwas aus dem Ruder – mit der Konsequenz, dass eine tiefgreifende Spaltung der Gesellschaft zementiert wird?
Fazit
Anfang des Jahres 2020, in der Vorcorona-Zeit, war in diversen deutschen Zeitungen zu lesen, dass die Hartz 4 – Rückforderungen in einem Jahr 17 Millionen Euro betragen. Ein Aufschrei ging durch die Republik – es wurden 17 Millionen Euro zu viel an Hartz 4 – Empfänger gezahlt. Ein Skandal! – wirklich? Fast zeitgleich wurde in den Medien publiziert, dass Vermögensanleger sich die Kapitalertragsteuer zurückerstatten lassen, und zwar die Steuern, die sie gar nicht bezahlt haben. Dieser Cum-Ex-Skandal hat einen volkswirtschaftlichen Schaden von 17 Milliarden Euro verursacht. Dieser Schaden ist genau tausend Mal höher als die Rückforderung der Hartz 4 Gelder.
Klassengesellschaften sind anthropogen und das Gegenteil von Politik ist Schicksal. Wir sind aber keine Schicksalsgemeinschaft und es wird höchste Zeit über den strukturellen Zusammenhang von Armut und Reichtum zu debattieren, ohne die von reicheren Bevölkerungsgruppen (gebetsmühlenartig) benannte Neid-Debatte zu führen. Außerdem ist die Aussage -Wer Leistung erbringt, verdient Belohnung- mit Vorsicht zu genießen, denn damit belügen wir uns in zweifacher Hinsicht. Einerseits wird zwar von einer Leistung gesprochen, aber es wird der Erfolg gemeint. Anderseits wird von einem Erfolg gesprochen, aber es wird in Wirklichkeit Geld gemeint. Mit solchen Verwechselungen wird die Leistungsgerechtigkeit ad absurdum geführt und Leistung wird mit Vorteilsnahme verwechselt. Ein so verstandener Leistungsbegriff polarisiert die Gesellschaft in Leistungswillige und Leistungsverweigerer und damit entlarvt sich die jahrelang umworbene neoliberale Leistungsgesellschaft an dieser Stelle selbst.
[1] Studentinnen und Studenten der Ökonomie wird häufig institutionell vermittelt, in binären Mustern zu denken. Auch wenn große Teile der Gesellschaft dieser binären Logik folgen, muss diese Art des Denkens aufgegeben werden, um zukünftige ökologische und ökonomische Probleme lösen zu können.
[2] Die Effizienz bezieht sich hier nicht auf die stofflich-materielle Zuteilung von Ressourcen, sondern ausschließlich um die maximale Verwertung des Kapitals.
[3] Ein scheußliches Wort, das als Unwort des Jahres 2020 deklariert werden sollte.