Die Reduktion der Preissteigerungsrate

08. Juli 2020

Gratisgeschenke der Natur

Scheinbar ist es rational, sich ausgiebig an und in der Natur zu bedienen. Diese Nutzung hat Karl Marx (1818–1883) als »Gratisgeschenk der Natur«  bezeichnet.[1] Diese Gratisgeschenke werden radikal genutzt bzw. geplündert. Obwohl die Klimakatastrophe vor der Tür steht, wird weiterhin Kohlenstoff, beispielsweise Rohöl, aus den  Quellen gepumpt. Die Probleme der Quellenförderung habe ich im Artikel Rohöl – ein knappes Gut-  beschrieben. Der überwiegende Teil unserer Konsumgüter besteht mehr oder weniger aus Öl. Wie bereits Karl Marx vor über 150 Jahren feststellte, kommt unser gesamter materielle Wohlstand aus der Natur, die uns kostenlose Geschenke zur Verfügung stellt.

Können Geschenke einen Preis haben?

Wie soll jetzt, bei einer Anbieterin, die Gratisgeschenke macht, ein Marktpreis entstehen? Dies funktioniert nur, wenn der auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Unternehmer der Urproduktion in die Rolle der Natur schlüpft.[2] Dieser gewinnmaximierende Ressourcenbesitzer wird mit Sicherheit nicht die Frage stellen, den endlichen Rohstoff  nicht anzurühren und für die kommenden Generationen aufzubewahren. Wie viel darf er also für die gegenwärtige Generation »abzwacken«? Wer entscheidet darüber? Die Marktliberalen haben eine einfache Lösung, nämlich der Preis. Dies ist aber viel zu kurz gedacht.

Der Rohstoffbesitzer steht in einem marktwirtschaftlich ausgerichteten System immer vor der Frage, ob er den Rohstoff sofort abbaut. Dann kann der Rohstoff auf dem Markt verkauft werden und der Urproduzent kann seinen erzielten Gewinn am Kapitalmarkt anlegen. Oder soll er den Rohstoff zurückhalten und darauf wetten, dass der Marktpreis durch die Verknappung zukünftig so steigt, dass in diesem Fall ein größerer Gewinn zu erwarten ist.

Die Reduktion der Preissteigerungsrate

An dieser Stelle muss man «unterscheiden zwischen dem aktuellen Ressourcenpreis einerseits und der Preisänderungsrate im Zeitverlauf des Ressourcenabbaus andererseits. Liegt letztere über dem Marktzins, verändert sich die Kalkulation zugunsten späterer Abbautermine, weil für sie ja höhere Preise angesetzt werden können. Wird daraufhin die Förderung reduziert, wird die Ressource langsamer abgebaut, weshalb sie dann in der Zukunft weniger knapp sein wird, als in der ursprünglichen Kalkulation unterstellt. Daher der Effekt der Reduktion der Preissteigerungsrate. Unter den Annahmen dieses Modells kommt es demnach allein durch Marktmechanismen zur Gleichheit von Preisänderungsrate (oder Grenzgewinnrate) und Zinssatz. Das bedeutet, dass auf dem Ressourcenmarkt stets Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage herrscht, gleichgültig, ob die Vorräte noch groß sind oder schon zur Neige gehen.«[3] Der mikroökonomische Begriff der Reduktion der Preissteigerungsrate ist  von der makroökonomischen Preissteigerungsrate (Inflation) zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang geht es nicht um die gesamtwirtschaftliche Geldentwertung, sondern um die Preiserhöhungen der Unternehmen, die sich aus den gegenwärtigen Knappheitsrelationen ergeben.

Die bittere Erkenntnis ist, dass an dieser Stelle der Markt und erst recht der Preismechanismus  komplett versagen, weil die tatsächliche Knappheit mit den üblichen Marktmechanismen nicht gemessen werden kann. Es wird zwar die akute, nicht aber die zukünftige Knappheit gemessen. Der Preis signalisiert die Knappheit von Ressourcen erst, wenn es viel zu spät ist und der Rohstoff zur Neige geht. Dies trifft insbesondere für die Ressource Öl zu.

Der Wert des Rohöls scheint unermesslich. Die klassische Volkswirtschaftslehre schaut sich das Angebot und die Nachfrage an und stellt fest, die Preisbildung für Rohöl funktioniert. Die Verbraucher schauen sich die täglichen Börsenberichte an und stellen fest, dass die Märkte die Preise wie von einer unsichtbaren Hand  ermittelt haben. Sowohl die absolute Knappheit als auch der Wert an sich wird bei diesem Rohstoff vollkommen ausgeblendet. Das System kann nicht funktionieren, wenn der Preis beispielsweise in Rotterdam nach der relativen Knappheit in den Öllagern gebildet wird. Meistens wird Öl nach wie vor nach dem Over-the-Counter (OTC) – Prinzip gehandelt, also findet die Preisbildung direkt zwischen Lieferanten und Händlern statt. Dieser unkontrollierte außerbörsliche Handel ist anfällig für Spekulationsblasen. Rohstoffmärkte, die nicht der Börsenkontrolle unterliegen, gehören deshalb verboten.

Da der Preis an dieser Stelle als Knappheitsindikator ausfällt, werden wir den Rückgang des Öls erst dann wahrnehmen, wenn es zu akuten Engpässen kommt. In diesem Eintrittsjahr werden wir in kurzer Zeit merken, dass die Benzinpreise extrem stark steigen und feststellen, dass die Ölförderzahlen deutlich zurückgegangen sind. Dann wird es aber zu spät sein und der Prozess lässt sich nicht mehr umkehren. Solange die Möglichkeit der Angebotsausweitung besteht, werden die Märkte durch kurzfristige Signale beeinflusst. Auch wenn die Börse und die Finanzmärkte imstande sind, sehr viel Signale hinsichtlich der Knappheit von Wirtschaftsgütern zu verarbeiten und eine entsprechende Preisbildung zu realisieren, verhält es sich beim Öl ganz anders. Der Peak (Fördermaximum) und der darauffolgende Rückgang der Förderung ist ein einmaliges Ereignis, er sendet keine Signale an die Rohstoffmärkte im Voraus. Das ökonomische Wunder- und Allheilmittel Markt wird spätestens dann versagt haben.

Fazit

Meine Aussagen mögen ökonomisch einleuchtend sein, ökologisch sind sie aber unrealistisch. Die Realität ist eine andere, wir werden wohl verzichten müssen – um der Klimakatastrophe wirksam zu begegnen, muss der Kohlenstoff (Öl und Kohle) dableiben, wo er ist – in der Erde.

[1] Karl Marx, Das Kapital, Band 1, 22. Kapitel, MEW 23, S. 630

[2] Vgl. Peter Weise, Neue Mikroökonomie, Heidelberg, 2005, S. 261

[3] Peter Weise, Neue Mikroökonomie, Heidelberg, 2005, S. 263

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