Wann endet die unendliche Geschichte?

13. Oktober 2020

Auf dem Grabstein des Kapitalismus wird später stehen: „Zuviel war nicht genug“.

Volker Pispers

Am 25. Oktober 2020 werden die Chilenen über eine neue Verfassung abstimmen. Dies ist insofern ein historisches Datum, weil die Bevölkerung die Möglichkeit bekommt, über eine legitime Verfassung abzustimmen. Das Datum ist aber auch deshalb bemerkenswert, weil, fast genau vor 50 Jahren, am 24. Oktober 1970 Salvador Allende vom Parlament zum Präsidenten gewählt wurde. Allende stärkte die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, reformierte das Bildungs- und Gesundheitswesen. „Medikamente und Arztbesuche, Schulbildung, Bücher und Hefte wurden kostenfrei, und jedes Kind in Chile erhielt fortan täglich eine halben Liter Milch – gratis.“[1] Dann kam der 11. September! 1973, die Luftwaffe bombardierte das Regierungsgebäude La Moneda und Salvador Allende wurde mit Hilfe der USA aus dem Amt geputscht und vermutlich ermordet.

Die Geburt der neoliberalen Wirtschaftspolitik

 Nach dem Militärputsch wurde der chilenische General und Diktator Augusto Pinochet, der maßgeblich von den USA gefördert wurde, als Präsident installiert und das »Experiment der neoliberalen Wirtschaftspolitik« begann. Pinochet war Vorsitzender der Militärjunta, und eine enorme Zahl von Menschenrechtsverletzungen und mehrere Tausende Ermordetete gingen auf sein Konto. Im Jahre 1975 besuchte der neoliberale Ökonom Milton Friedman aus Chicago das Land. Anschließend wurden die wichtigsten Ministerien in Chile mit den sogenannten Chicago Boys besetzt. Die Mitglieder der Chicago Boys waren Ökonomen, die der neoliberalen Denkschule des Milton Friedman sehr nahestanden. Jetzt wurden erstmalig die wirtschaftsliberalen Reformen Friedmans umgesetzt. Neben der Privatisierung, der Deregulierung und der Liberalisierung der chilenischen Märkte wurden die Sozialausgaben erheblich gekürzt und die Steuern reduziert. Die restriktive Geldpolitik führte anschließend zu einer Inflationsverringerung, im Gegenzug schnellten die Arbeitslosenquote und die damit verbundenen sozialen Probleme nach oben.

Die neoliberale Wirtschaftspolitik erobert die Welt

Die neoliberale Wirtschaftstheorie wurde durch die Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften an Friedrich August von Hayek (1899–1992) im Jahre 1974 und an Milton Friedman im Jahre 1976 aufgewertet. Anschließend, Anfang der 1980er Jahre, eroberte die neoliberale Ökonomie Zug um Zug fast die gesamte Welt. Maggie Thatcher und Ronald Reagan setzten, nach dem Experiment in Chile, diese Wirtschaftspolitik in Großbritannien und in Amerika um. Die Ökonomie der Chicagoer Schule, begründet durch Milton Friedman, wird, ähnlich einer fundamentalistischen Glaubensrichtung, als geschlossenes System begriffen. Die Ausgangssituation besagt, dass freie Märkte perfekte, wissenschaftliche Systeme sind. Da alle Marktteilnehmer individualistische Eigeninteressen verfolgen, wird für die gesamte Gemeinschaft ein größtmöglicher Gewinn erzeugt. Falls es in diesem System zu Ungleichgewichten (zum Beispiel hohe Inflation oder Arbeitslosigkeit) kommt, liegt die Ursache darin, dass die Märkte nicht wirklich frei sind. Die Freiheit wird durch die Einmischungen des Staates und Nichteinhaltung der Prinzipien der Chicagoer Schule (Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung, Steuererleichterungen und Zurückfahren der Sozialausgaben) behindert. Die Lösung der Chicagoer Schule ist immer gleich: Die fundamentalen Prinzipien müssen noch gründlicher durchgesetzt werden. Wenn der Markt nicht funktioniert, liegt es an der mangelnden Freiheit; der Freiheit, Regulierungen und Steuern zu umgehen und Staatsgrenzen zu ignorieren. Milton Friedman hielt nicht viel von den Organisationen Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank, da sie den freien Markt stören. Trotzdem beschlossen genau diese Organisationen, die Grundsätze von Friedman zu übernehmen. Die Weltbank und der IWF beschlossen 1989 den sogenannten Washingtoner Consensus und die Chefökonomen dieser Organisationen propagierten somit die wirtschaftspolitischen Ziele und Grundsätze Friedmans.

»Zu diesen – als technisch und unstrittig dargestellten – Grundsätzen zählten unverhohlen ideologische Behauptungen wie ›alle Staatsunternehmen sollten privatisiert werden‹ und ›Barrieren, die den Marktzugang für ausländische Firmen behindern, sollten abgeschafft werden‹«[2], damit sich der Freihandel entfalten kann.  Im Wesentlichen drückt der Freihandel aus, »dass jede sich irgendwo auf dieser Welt befindende Ressource demjenigen zum Kauf freistehen muss, der das meiste für sie bietet. Mit anderen Worten: Wer immer das Geld hat, um diese Ressource zu kaufen, hat auch einen Rechtsanspruch auf sie. Nach diesen Regeln gehört das Öl Venezuelas ganz genauso den Vereinigten Staaten, als ob es unter dem Boden von Texas oder Missouri läge.«[3]

Damit begann der eigentliche Kreuzzug der Chicagoer Schule um die ganze Welt.  Der Kreuzzug erfasste auch Deutschland. Der in den 1970er Jahren erarbeitete Wohlstand machte „einen Waffenstillstand zwischen Kapital und Arbeit möglich“ (Wade Davis).  Nun wurde aber auch in Deutschland das Wachstum angekurbelt und die Einkommensungleichheiten nahmen zu. Der in den 1980er Jahren begonnene Prozess beschleunigte sich in den 1990er Jahren. Die Märkte wurden nun im großen Umfang weltweit privatisiert, dereguliert, entstaatlicht und liberalisiert. Die Optimierung der langfristigen Unternehmenssubstanz durch den Stakeholder-Value-Ansatz wurde aufgegeben zugunsten eines kurzfristigen Shareholder-Value-Ansatzes. Dies wirkte sich auf die Geschäftspolitik vieler Unternehmen aus. Die Bilanzierungspraxis wurde geändert, Managergehälter wurden gewinnorientiert ausgerichtet, und im Ãœbrigen orientierte man sich an kurzfristigen Gewinnerwartungen und Quartalszahlen. Das Wirtschaftswachstum stand nun im Mittelpunkt der Ökonomie und eine beispiellose Plünderung des Planeten begann. Die ökologischen Probleme nahmen massiv zu und die CO2-Konzentration stieg während der letzten 50 Jahre von 315 ppm (Anfang der 1970 er Jahre) auf knapp 420 ppm (im Jahre 2020).

[1] Sophia Boddenberg, 50 Jahre nach Allende: Aufbruch in ein neues Chile?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10`20, Berlin, 2020, S. 37/38

[2] Naomi Klein, Die Schock Strategie, Frankfurt am Main, 2007, S. 229

[3] Richard Heinberg, Öl – Ende, München, 2008, S. 71

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