„Was aber gegen die Natur ist, ist unrecht, schlecht und ohne Bestand.“
(Alexander von Humboldt, Tagebücher: 23.06.-08.07.1801, Band 1, S.87)
Vor zwei Jahren sprach mich entsetzt ein Schüler an und wollte wissen, warum ich mit einer Plastiktüte herumlaufe. Nun ja, seit vielen Jahren „transportiere“ ich die Klassenarbeiten der Schülerinnen und Schüler umweltgerecht in einem Jutebeutel. An diesem besagten Schultag habe ich aber morgens meinen Jutebeutel nicht gefunden und habe stattdessen eine Plastiktüte entdeckt, die ich dann für den Transport nutzte. Der Schüler war ein wenig ungehalten und meinte: „Plastik, das geht ja gar nicht. Schließlich müssen wir die Welt und das Klima retten.“ Daraufhin konterte ich, dass wir schon damals, in den 1970er und 1980 er Jahren, in unserer Wohngemeinschaft mit Jutebeutel (Jute statt Plastik) herumgelaufen sind. Seit dieser Zeit ist der Plastikverbrauch um satte 900 Prozent gestiegen. Außerdem haben wir auch gegen die Umweltzerstörung demonstriert und einige von uns haben sich am Bauzaun in Brokdorf (Atomkraft? Nein danke) Blessuren abgeholt. Die Erkenntnis, dass die Natur und das Klima geschützt werden muss, stammt keineswegs von Friday for Future, sondern sie ist schon uralt. Im Grunde genommen ist sie schon ungefähr 200 Jahre alt.
Die neuen Erkenntnisse sind uralt
Benjamin von Brackel schrieb kürzlich: „Noch immer behandeln Politikerinnen sowie viele Umweltschützer und Wissenschaftlerinnen die Arten- und Klimakrise fatalerweise getrennt voneinander.“[1] Er führte weiter aus, dass im Jahre 1992 angeblich noch nicht klar war, wie eng beide Sphären miteinander verbunden sind. Damit hat Benjamin von Brackel zwar recht, aber ein gewisser Alexander von Humboldt hat schon vor 200 Jahren die Zusammenhänge skizziert. Der gegenwärtige Klimadiskurs springt zu kurz, denn das Problem ist wesentlich komplexer und es wird von den oben genannten Personen unterschätzt, weil Meere und Landmassen häufig ausgeblendet werden. Deshalb lohnt es sich immer wieder, Alexander von Humboldt zu lesen. Er hat den Klimawandel für damalige Verhältnisse sehr genau beschrieben, obwohl die Menschheit zu dieser Zeit kaum Kohlenstoff verbrannte, weil beispielsweise Autos und Flugzeuge noch nicht erfunden waren. Die Molekularstruktur von Rohöl wurde erst 150 Jahre später entdeckt; insofern kannte die Menschheit kein Plastik. Heute wissen wir, dass eine einzige Probe Rohöl hunderte, völlig unterschiedliche Kohlenwasserstoffmoleküle enthält. Durch Destillation in einer Raffinerie werden sie sortiert und veredelt. Durch den Veredelungsprozess konnte die Menschheit zunächst Gase wie Propan und Butan herstellen. Dann kam Benzin hinzu, später Kerosin und Diesel. Die Geburtsstunde der petrochemischen Industrie begann, als man technisch imstande war, große Molekülketten zu halbieren und kleine Moleküle zusammenzukleben. Indem Erdölderivate vermischt werden, entstehen Kunststoffe, die unser Leben komplett verändert haben.
Das Mensch-Natur-Verhältnis steckt in einer Krise
Vor 150 Jahren gab es weder die entsprechende Forschung noch die dazugehörigen Erkenntnisse. Trotzdem war Alexander von Humboldt im Jahre 1859 der erste Wissenschaftler der nachweislich die Konsequenzen des Klimawandels beschrieb: „Zerstört man die Wälder, wie die europäischen Ansiedler allerorten in Amerika mit unvorsichtiger Hast thun, so versiegen die Quellen oder nehmen doch stark ab. Die Flußbetten liegen einen Teil des Jahres über trocken und werden zu reißenden Strömen, so oft im Gebirge starker Regen fällt. Da mit dem Holzwuchs auch Rasen und Moos auf den Bergkuppen verschwinden, wird das Regenwasser im Ablaufen nicht mehr aufgehalten; statt langsam durch allmähliche Sickerung die Bäche zu schwellen, furcht es in der Jahreszeit der starken Regenniederschläge die Bergseiten, schwemmt das losgerissene Erdreich fort und verursacht plötzliches Austreten der Gewässer, welche nun die Felder verwüsten.“[2]
Abgesehen vom veralteten Sprachgebrauch könnte diese Berichterstattung auch für die jüngste Katastrophe im Ahrtal gelten. Die heutige Berichterstattung ist aber häufig nicht annähernd so differenziert wie die Betrachtungen Humboldts. Er erklärte sehr genau die grundlegende Funktion des Waldes für das gesamte Ökosystem und für das Klima. Die Bäume im Wald können Wasser speichern und damit die Atmosphäre mit Feuchtigkeit anreichern. Deshalb wird der Boden geschützt und die Umgebung wird abgekühlt. Ohne Wald ist der Boden Regen, Sonne und Wind schutzlos ausgeliefert. Das Klima wird noch zusätzlich positiv beeinflusst, weil Bäume bekanntlich Sauerstoff freisetzen und CO2 binden. Diese Erkenntnisse sind also nicht neu.
Damals konnte Humboldt auch noch nicht wissen, mit welchen schweren Geräten wir durch Land- und Forstwirtschaft pflügen und den Boden verdichten. Auch hätte er sich die Augen gerieben, wenn er die Versiegelung des Bodens durch den Städte- und Straßenbau gesehen hätte. Über 400 Mio. Hektar Bäume gingen in den letzten 20 Jahren durch Abholzung und Brandrodungen verloren. Er wäre entsetzt über die Abertausende Hektar, die jeden Tag versiegelt und verbaut werden. Humboldt hat das Verständnis von Ökosystemen revolutioniert, weil er die Vegetation aus dem Blickwinkel von Klima und Standort betrachtet und keinesfalls, wie damals üblich, eine taxonomische Kategorisierung vornahm. Auch in der heutigen Zeit sehen Taxonomen als Artenexperten häufig nicht die gesamten Zusammenhänge, weil sie die Spezies nur in einem biologischen Klassifizierungsschema erfassen. Sie ordnen beispielsweise eine einzelne Pflanze einer Art zu, diese gehört dann zu einer Gattung. Dann wird weiter klassifiziert. Die Gattung ist Teil einer Unterfamilie, die wiederum zu einer Familie gehört usw.
Das veraltete Denken unserer modernen Führungselite
Bezüglich des Klimawandels scheinen viele Politikerinnen und Politiker gedanklich in der Zeit noch vor Alexander von Humboldt zu leben, auch wenn sie von der Digitalisierung und dem maschinengesteuerten Menschen träumen. Bevor Alexander von Humboldt seine bahnbrechenden Entdeckungen zum Klima veröffentlichte, beschäftigten sich andere Wissenschaftler seiner Zeit mit meteorologischen Daten wie Temperatur und Wetter. Seit Humboldt ist aber bekannt, dass man das Klima nicht auf das Wetter reduzieren kann. Humboldt untersuchte damals schon komplexe Zusammenhänge zwischen der Atmosphäre, der Meere und den Landmassen. Er kam zu dem Schluss, dass die Abholzung und die rücksichtslose Bewässerung das Klima verändert. Außerdem hat er damals schon vorausgesagt, dass die „Entwicklung großer Dampf- und Gasmassen an den Mittelpunkten der Industrie“ (A. v. Humboldt) das Klima beeinflussen wird. Man muss sich immer wieder klar machen, dass es zu dieser Zeit weder Autos und Flugzeuge noch Computersimulationen und Plastik gab. In der heutigen Zeit können Extremwetterereignisse präzise vorhergesagt werden. Der Klimawandel führt zu höheren Temperaturen und somit steigt mehr Wasser und Energie in die Troposphäre auf. Dadurch speichert die Atmosphäre mehr Feuchtigkeit und die höhere Niederschlagsmenge regnet vorzugsweise in den deutschen Mittelgebirgsregionen ab.
Auch der Fleischverzicht ist keine neue Erkenntnis
Dass der Fleischverzicht ökologisch sinnvoll ist, beschrieben der Deutsche Alexander von Humboldt und der Amerikaner George Perkins Marsh bereits vor 170 Jahren. Insofern waren sie revolutionäre Vordenker. Marsh behauptete, dass „(i)n dem Maße, wie das Einkommen durchschnittlicher Amerikaner stieg, (…) sich beispielsweise auch der Fleischkonsum (erhöhte), der seinerseits erhebliche Auswirkungen auf die Natur hatte. Die Fläche, die erforderlich war, um die Tiere zu füttern, war nach Marshs Berechnungen viel größer als das Ackerland, auf dem Getreide und Gemüse mit gleichem Nährwert angebaut werden konnte. Marsh zog daraus den Schluss, dass es aus ökologischer Sicht verantwortlicher war, sich vegetarisch zu ernähren. Mit Wohlstand und Konsum komme die Umweltzerstörung, behauptete er. Doch zu jener Zeit gingen seine ökologischen Bedenken in der Kakofonie des Fortschritts unter – im Knarren der Mühlenräder, im Zischen der Dampfmaschinen, im rhythmischen Kreisen der Sägen in den Wäldern und im Pfeifen der Lokomotiven.“[3]
Insofern hat sich nichts geändert, im Gegenteil – der zunehmende technische Fortschritt könnte die Probleme noch verschärfen. Im diesjährigen Wahlkampf wurde sehr deutlich, dass die FDP nur eine einzige Antwort auf den Klimawandel hat und das ist der technische Fortschritt. Diese Partei war im ökologischen Denken auch schon weiter. Ein Blick in die Freiburger Thesen der FDP aus dem Jahr 1971 belegt, dass die FDP hinsichtlich des Umweltschutzes damals sehr viel fortschrittlicher war. Hier ist zu lesen: „  Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen. Umweltschädigung ist kriminelles Unrecht.“  Dies ist umso bemerkenswerter, weil damals der Klimawandel noch weitestgehend unbekannt war. Also bleibt nur festzustellen, dass die Neuigkeiten zum Umweltschutz schon sehr alt sind. Früher war die FDP eine moderne, ökologische Partei und Alexander von Humboldt war progressiver als der heutige politische Mainstream. Es gibt aber auch Ausnahmen: Karl Lauterbach von der SPD hat die Perspektive Humboldt´s  scheinbar verstanden. Er kündigte für den Herbst 2021 ein Buch über den Klimawandel an und twitterte kürzlich: „Viele verstehen nicht, dass es jetzt mindestens 80 Jahre schlimmer wird, egal was wir tun.“ Und damit hat er recht.
[1] Benjamin von Brackel, Klimawandel und Artensterben: Die globale Zwillingskrise, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9`21, Berlin, 2021, S. 9
[2] Alexander von Humboldt, Reise 1859-1860, Band 2, S. 207
[3] Andrea Wulf, Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur, München, 2015, S. 362/363