GAIA oder „Huston, we have a problem“?

16. November 2019

„Gaia ist das Lebenssystem der ganzen Erde, zu dem alles gehört, was von der Gesamtheit von Flora und Fauna (Biota) beeinflußt wird oder sie beinflußt. Das Gaia-System hat mit allen lebendigen Organismen die Fähigkeit zur Homöostase gemein, das heißt, zur Stabilisierung der physikalischen und chemischen Umwelt auf einem das Leben begünstigten Niveau.“

James Lovelock, Gaia, Die Erde als Lebewesen, 1992, S.56.

 

Neben einer Vielzahl von Geowissenschaftlern gibt es viele Philosophen, die die Erde als Lebewesen ansehen. Die Gaia-Theorie[1] geht davon aus, sehr vereinfacht erklärt, dass die Erde „ein sich selbst organisierendes geochemisches System“[2] ist. Im Gegensatz zu den drei Lebewesen Menschen, Tiere und Pflanzen kann sich die Erde natürlich nicht fortpflanzen; sie ist aber einmalig.

Die Erde hat Fieber

Die Gaia-Theorie hilft uns, die Funktionsweise der Erde und auch die Klimazusammenhänge besser zu verstehen. Hinsichtlich des Klimas werden Mittelwerte über einen sehr langen Zeitraum erhoben. Der menschliche Organismus kann extreme Wetterveränderungen aushalten. Wir kommen mit 40 Grad Außentemperatur genauso klar wie mit 15 Grad minus. Nach den Lehrsätzen der Hydrotherapie kann ein gesunder, menschlicher Körper sogar kurzfristig minus 180 Grad Celsius oder plus 120 Grad Celsius aushalten. Unsere innere Temperatur lässt solche Schwankungen nicht zu, denn ein Mensch stirbt bei einer langfristigen Körpertemperatur von 33 Grad beziehungsweise 42 Grad Celsius. Wenn wir die Natur, wie die Gaia-Theoretiker, als Organismus begreifen, dann ist eine Temperaturdifferenz von 2 Grad Celsius eine große Zahl. Ein menschlicher Organismus, der dauerhaft statt 37 Grad 39 Grad Celsius ertragen müsste, würde nach einer gewissen Zeit kollabieren und vermutlich sterben. Fieber ist aber keine Krankheit, sondern ein Symptom, welches anzeigt, dass im Körper etwas nicht in Ordnung ist und ein Arztbesuch ist dann ratsam. Unseren empfindlichen Organismus kennen wir gut, vom Organismus der Erde und der Funktionsweise der Natur haben wir uns aber weit entfernt.

Was bewegt die Menschheit?

Wir steuern mittlerweile Prozesse, die wir nicht mehr kontrollieren können. Auch durch die vermehrte Nutzung digitaler Technik werden Prozesse betätigt, die möglicherweise nicht mehr zu beherrschen sind. In der digitalen Technologie vollzieht sich die Signalverarbeitung in Lichtgeschwindigkeit (ca. 300.000 km/sec.), die “höchste Wirkungstransportgeschwindigkeit im gesamten Universum” (Harald Lesch).  Die menschliche Zivilisation läuft auf Hochtouren und digitale Prozesse laufen nicht mechanisch ab, sie benötigen sehr viel Strom. Eine Cloud ist auch kein amorphes Gebilde, sondern ein Server aus Stahl, Beton und Seltenen Erden, der irgendwo am Nordpol steht. In den Industrieländern hat sich der „Stromverbrauch“[3] seit den 1960er Jahren um (mindestens) das Vierfache pro Person erhöht und die gesamte Menschheit hält weltweit permanent siebzehn Terawatt Energie bereit. Der beleuchtete Planet ist aus dem All sichtbar. Diese Energieleistung ist mit Vulkanausbrüchen, Tsunamis und der Plattentektonik vergleichbar. „Nach einigen Berechnungen erreicht die Transformationskraft des Menschen sogar fast das Ausmaß der Plattentektonik.“[4] Über viele Millionen Jahre bewegte sich die Erde, Landmassen verschoben sich, entstanden irgendwo neu, prallten auch schon mal aufeinander. Diese, durch die Plattentektonik  freigewordene Energie, wird auf 40 Terrawatt geschätzt.

Natur/Kultur

Im Gegensatz zur Kultur kann die Natur  als etwas begriffen werden, dass ohne Zutun des Menschen besteht. Als der Mensch sesshaft wurde, hat er mit zunehmendem Tempo die Natur kultiviert und Landschaften und Lebensräume durchgreifend verändert. Aus der Natur wurden Kulturlandschaften. Bis zur Industrialisierung wurde das Antlitz der Erde aber kaum verändert. Mit der Industrialisierung vor knapp 250 Jahren hat die Bergbau- bzw. Energieindustrie dann für flächendeckende und dauerhafte Veränderungen gesorgt. Mit der Nutzung des Erdöls  ging die größte Steigerung im globalen Energieverbrauch einher. Die letzte große Veränderung fand nach dem 2. Weltkrieg statt. Die Landwirtschaft wurde zunehmend industriell ausgerichtet und die Forstwirtschaft funktionierte die Wälder zu Plantagen um. Werden die Naturkräfte noch genutzt oder haben sich die, im Wettbewerb stehenden, Bauern und Förster von der Land- und Forstwirtschaft entfernt, um industrielle Strukturen aufzubauen?

Im Gegensatz zur Volkswirtschaftslehre, die zwischen An- und Abbauboden unterscheidet, betrachtet die Gaia-Theorie den Boden als eigenständigen Organismus. Mit zunehmender Industrialisierung wurden immer größer werdende Mengen Energie benötigt, also wurde der Abbauboden geplündert. Zunächst wurden die Vorräte des Bergbaus ausgebeutet, später wurde das Öl entdeckt, dass sich zum entscheidenden Antreiber der Industrialisierung entpuppte. In der heutigen Zeit spielt der Anbauboden, auch als Energielieferant, eine zunehmende Rolle und die Ausbeutung dieses Bodens erfolgt meistens nach industriellen Maßstäben. Die meisten Landwirten bewirtschaften den Boden als leblose Materie, der nur dazu gebraucht wird, um die Pflanzen festzuhalten. Wir führen einen Vernichtungsfeldzug gegen den fruchtbaren Boden,  obwohl er uns unsere Nahrungsmittel liefert und inzwischen knapp wird. Scheinbar spüren wir den Boden unter unseren Füßen nicht mehr.

Auch unser Bundeswirtschaftsminister äußert sich zu Gaia

Die Gaia-Theorie geht davon aus, dass „der Ort, wo gehandelt werden muss“[5], im hier und jetzt liegt. Diese Theorie ist keineswegs utopisch. Utopisch ist es, wenn man meint, den Weltraum beherrschen zu können. Auch wenn man Astronauten von unserem lebenden Planeten zu sehr weit entfernten toten Planeten verfrachten könnte – was wäre gewonnen? Nichts, wir haben nur eine Heimstätte – die Erde.

Der Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) will die jüngste Forderung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) zur Errichtung eines Weltraumbahnhofs prüfen. Es wäre aber in der Tat utopisch, wenn man über die Besiedelung des Weltraums nachdenken würde, denn es gibt keinen Plan B. Wir können nicht um Hilfe bitten wie im Film Apollo 13 von Ron Howard: „Houston, we have a problem.“

Das Bundeswirtschaftsministerium beschäftigt sich neuerdings auch mit Gaia. Am 29.10.2019 gab das Ministerium die Broschüre „Das Projekt Gaia-X“ heraus (https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Digitale-Welt/das-projekt-gaia-x.pdf?__blob=publicationFile&v=18). Der Untertitel deutet aber schon die Denkrichtung an, denn es soll eine vernetzte Dateninfrastruktur als Wiege eines vitalen, europäischen Ökosystems errichtet werden. Auf Seite 2 wird dann das digitale Ökosystem -was auch immer sich dahinter verbirgt – erklärt: „Unter einem digitalen Ökosystem verstehen wir das Netzwerk aus Entwicklern, Anbietern und Anwendern digitaler Produkte und Services in Verbindung mit Transparenz, breitem Zugang und vitalem Austausch. Es stellt somit eine entscheidende Grundlage für europäisches Wachstum, digitale Innovationen und neue Geschäftsmodelle dar.“

Ja klar, es geht mal wieder nur um Geschäftsmodelle. Statt die Natur in den Mittelpunkt zu stellen, sollen die neuen, digitalen Märkte[6] mal wieder, unter dem Deckmantel der „digitalen Ökosysteme“(?), bedient werden. Wann versteht unser Wirtschaftsminister  endlich, dass wir weder ein Daten- noch ein Wissensproblem haben, wir haben ein Handlungsproblem. Um die Ökosysteme zu stabilisieren und den Klimawandel wirksam zu begegnen, benötigen wir tiefgreifende Veränderungen in unserer Art, mit der Natur zu wirtschaften und keineswegs „digitale Ökoysteme“.

Resümee

Die sogenannten seriösen Wissenschaftler vermeiden das Wort Gaia und bevorzugen den Euphemismus „Wissenschaft vom System Erde“. Es gilt aber in der Wissenschaft und im wahren Leben, dass es nicht auf die Bezeichnung ankommt, sondern es geht nur und ausschließlich um die Inhalte. Die Wissenschaftler sind sich weitgehend einig – wir leben seit der Industrialisierung im Zeitalter des Anthropozäns. Mit der Industrialisierung ist der Homo faber  entstanden, der von Hannah Arendt charakterisiert wird: „Alles Herstellen ist gewalttätig, und Homo faber, der Schöpfer der Welt, kann sein Geschäft nur verrichten, indem er Natur zerstört.“[7] Die Grenzen der Naturzerstörung sind aber mittlerweile erreicht.

Auch wenn viele Wissenschaftler der Gaia-Theorie skeptisch gegenübersteht, trotzdem muss man die Funktionen von Kreisläufen  und Gleichgewichten in der Natur anerkennen. „Die Ökologie ist nichts anderes als eine Langzeitökonomie, die Ökonomie nichts anderes als eine Kurzzeitökologie.“[8]

Für mich ist der Gleichgewichtsgedanke sowohl in der Ökonomie als auch in der Ökologie von entscheidender Bedeutung. Scheinbar haben wir unsere Gleichgewichte verloren. Ob mit oder ohne Gaia-Theorie, die Gleichgewichte müssen zwingend wiederhergestellt werden. Den Abbauboden haben wir schon weitgehend ausgebeutet und vernichtet, nun ist den Anbauboden dran. Es gilt aber – ohne Boden kein Leben. Die Menschen wussten doch schon immer, dass eine Naturausbeute der Erde, beispielsweise die Ernte, nur funktioniert, wenn etwas Lebendiges wieder hinzugefügt wird, beispielsweise Kompost und Stallmist. Die Naturausbeutung kann in diesem Zusammenhang nur gestoppt werden, wenn wieder Humus entsteht. Das 4-Promille-Ziel des Pariser-Klimaabkommens muss zwingend eingehalten werden. Wir leben ausnahmslos von der oberen Schicht der Erde.  Der Aufbau hat zwei Millionen Jahre gebraucht und wir vernichten den Boden, den Mutter-Boden und die Mutter Natur innerhalb kürzester Zeit und ziehen uns den Boden unter den Füßen weg, behaupten aber, dass wir auf dem Boden der Tatsachen stehen.

[1] Der französische Professor Bruno Latour hat einige Bücher zu der Thematik verfasst. Das diskussionswürdige Buch „Kampf um Gaia“ von Bruno Latour ist sehr empfehlenswert. Der britische Chemiker, Biophysiker und Mediziner James Lovelock veröffentlichte seit den 1970 er Jahren einige prägende Bücher zur Gaia-Theorie. Lovelocks Gedanken haben die weltweite Ökologiebewegung maßgeblich beeinflusst. Der Physiker Fritjof Capra, ein ehemaliger Heisenberg-Schüler, bezieht sich in seinem Buch „Das Tao der Physik“ auf Lovelocks Hypothesen zur Gaia-Theorie.

[2] Fritz Reheis, Die Resonanzstrategie, München, 2019, S. 45.

[3] Strom kann natürlich nicht verbraucht werden. Die elektrische Energie wird beispielsweise in Wärme umgewandelt wird.

[4] Bruno Latour, Kampf um Gaia, Berlin, 2017, S. 199.

[5] Bruno Latour, Kampf um Gaia, Berlin, 2017, S. 142.

[6] „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Daten (im Original: Geld) nicht essen kann.“ Von mir abgewandelte Weissagung der Cree.

[7] Hannah Arendt, Vita activa, München, 1967, S.165.

[8] Fritz Reheis, Die Resonanzstrategie, München, 2019, S. 25.

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