Wie können wir die toxischen Zustände überwinden?

02. Dezember 2022

„Das gegenwärtige Wirtschaftssystem, das auf der unkontrollierten Zirkulation von Kapital, Gütern und Dienstleistungen ohne soziale und ökologische Vorgaben beruht, kommt in mancher Hinsicht einem Neokolonialismus zugunsten der Reichen gleich.“ (Thomas Piketty)

 Weltweit gleichen sich die Bilder: Die rechten Parteien gewinnen zunehmend Wählerstimmen und die Zahl der Nichtwähler steigt. Bei der letzten Wahl in Italien ging Georgia Meloni als Siegerin hervor. Dies lag aber nicht nur an dem Wahlsieg der Rechten. Nein, der stärkste Block in Italien waren die Nichtwähler und die zeigen sehr deutlich, dass immer mehr Menschen glauben, dass es vollkommen egal ist, wer regiert. In Deutschland hingegen werden zweifelhafte Koalitionen (SPD, Grüne, FDP) geschlossen, mit der Konsequenz, dass die Konturen der Parteien zunehmend verschwimmen. Deshalb sollte über eine Änderung des Wahlsystems nachgedacht werden. Auch in Deutschland glauben viele Leute, dass es völlig egal ist, wer regiert. Wenig hilfreich ist dabei das schnöde „Nö“ des Kanzlers, der diese Antwort einem Journalisten entgegenschleuderte, der nach der Notwendigkeit von Einsparungen und Verzicht recherchierte. Kurzum – die Parteien werden sich immer ähnlicher, davon partizipieren dann die rechten Parteien und für die Parteien, die nicht zu dem rechten Spektrum gehören, gilt: „Wahlen gewinnt derzeit nur, wer das Unmögliche verspricht, nämlich die vorherrschende Wohlstandsverwahrlosung bis auf minimale Designkorrekturen unangetastet zu lassen und daneben die Ökosphäre technologisch heilen zu können.“[1]

Wie können nun progressive Parteien ihr Profil schärfen?

 Eine Transformation des Kapitalismus scheint aber unausweichlich.[2] Neben der Ausbeutung der Natur befeuert der Kapitalismus eine zunehmende Ungleichheit. Der französische Ökonom Thomas Piketty kommt zu einem bemerkenswerten Befund: „Während der Anteil der reichsten 10 Prozent am Gesamteinkommen in Europa zwischen 1910 und 1980 von 52 auf 28 Prozent gesunken war, ist er bis 2020 wieder auf 36 Prozent angestiegen. Der Anteil der ärmsten 50 Prozent am Gesamteinkommen stieg dagegen zwischen 1910 und 1980 von 13 auf 24 Prozent, bevor er bis 2020 wieder auf 21 Prozent gefallen ist.“[3] Die Einführung des neoliberalen Wirtschaftssystems (Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung der Märkte) und ein auf Wachstum gebürsteter Turbokapitalismus in den 1980er – Jahren sind sicherlich die Gründe für diesen traurigen Befund.

Progressive Parteien müssen mit aller Kraft die “Entmarktung“ der Wirtschaft vorantreiben. Es geht hier natürlich nicht um eine Zentralverwaltungswirtschaft einer gescheiterten DDR, sondern darum, bestimmte Grundgüter der Marktsphäre zu entziehen. Im Rahmen nicht gewinnorientierter Strukturen müssen Grundgüter wie Energie, Erziehung, Gesundheit, Verkehr und Kultur aus dem Markt genommen werden und beispielsweise genossenschaftlich oder kommunal verwaltet werden. Dies beinhaltet eine Änderung der Eigentumsverhältnisse. Ein Hebel dafür sind progressive Steuersätze, „die Menschen daran hindern, unbegrenzt Reichtum anzuhäufen oder die Umwelt zu verschmutzen.“[4]

Sind Steuern schädlich?

 Ein wesentlicher Punkt für die Einführung der neoliberalen Wirtschaftspolitik in den 1980er- Jahren ist der Irrglauben, dass höhere Steuern schädlich für die Wirtschaft sind. Obwohl die Laffer-Kurve[5] nie wissenschaftlich bewiesen wurde, glauben viele neoliberale Ökonomen an den hypothetischen Zusammenhang, dass Steuereinnahmen mit zunehmendem Steuersatz erst steigen, um dann, nach erreichen eines Maximums, wieder zu sinken. Dieser Irrglauben findet sich auch im Koalitionsvertrag zwischen den Parteien SPD, Grüne und FDP. Hier ist eindeutig kodifiziert, dass Steuererhöhungen nicht durchgeführt werden sollen. Marktliberale sind der Auffassung, dass es einen Zusammenhang zwischen Steuererhöhungen und Investitionstätigkeit gibt. Diese Korrelation mag es in Einzelfällen geben, einen wissenschaftlichen Beweis gibt es hingegen nicht, denn Investitionen sind für Unternehmen grundsätzlich nur dann vorteilhaft, wenn der Gewinn erhöht wird. Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist ein willkommenes Nebenprodukt. In der Betriebswirtschaftslehre gibt es eine Vielzahl von sogenannten Investitionsrechenverfahren, die es den Unternehmen erlauben, wahrscheinliche Gewinne und Risiken abzuschätzen. Es gibt aber keinen wissenschaftlichen Beleg darüber, inwieweit Steuern das Investitionsverhalten verändern. Wie ich im Blog Steuerparadoxon und Kapitalwert dargestellt habe, können Steuererhöhungen sogar die Investitionstätigkeiten vergrößern. Wenn sich nun ein Unternehmer entschließt eine bestimmte Maschine anzuschaffen, wird er zu einem mehr oder weniger komplexen Investitionsrechenverfahren greifen. Gehen wir davon aus, dass die neu anzuschaffende Maschine ihm einen sicheren Gewinn von 100.000 Euro beschert. Wird nun der Unternehmer auf die Investition verzichten, weil die Einkommensteuer von 42 % auf 50 % gestiegen ist? Wohl kaum.

Steuererhöhungen sind also nicht zwangsläufig schädlich für die Ökonomie, sie sind nur für die reichere Bevölkerung nicht vorteilhaft.  Die reiche Bevölkerung hat einen Teufelskreis in Gang gebracht, denn Vermögen erzeugt noch mehr Vermögen und es konzentriert sich in immer weniger Hände. Da dieser Sachverhalt mit marktwirtschaftlichen Prinzipien nichts zu tun hat,  werden wir um die Umverteilung von Eigentum und Einkommen  mit progressiven Steuersätzen in der Einkommensteuer nicht umhinkommen. Da wir nicht im Paradies leben, müssen Menschen daran gehindert werden, ihren Reichtum unbegrenzt zu maximieren, um gesellschaftliche Verwerfungen zu verhindern. Die FDP wird nicht müde zu behaupten, dass Deutschland im Steuerwettbewerb mit anderen Ländern stehe. Dies ist aber nicht richtig. „2021 hat die Regierung Biden angekündigt, die Gewinnsteuer in Niedrigsteuerländern direkt zu erheben, indem sie den Unternehmen und Niederlassungen die Differenz zwischen einem von den Vereinigten Staaten festgesetzten Steuersatz und den in den fraglichen Ländern (zum Beispiel Luxemburg oder Irland) geltenden Sätzen in Rechnung stellt. In beiden Fällen haben diese unilateralen Entscheidungen der Vereinigten Staaten bestehende Regeln und namentlich die innereuropäischen Regeln offen verletzt. Hätten Frankreich oder Deutschland entsprechende Beschlüsse gefasst, wäre es für die betroffenen Staaten ein Leichtes gewesen, sie im Namen der vom französischen und deutschen Staat in der Vergangenheit selbst verabschiedete Verträge von den europäischen Gerichten kassieren zu lassen. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ist bei der Verteidigung des absolut freien Kapitalverkehrs (auch über die Schaffung von Offshore-Strukturen mit denen sich de facto jede Reglementierung umgehen lässt) besonders weit gegangen, aber diese gesamte Entwicklung wäre überhaupt nicht möglich gewesen, hätte der Vertrag von Maastricht das Recht der Staaten, Regeln aufzustellen und Steuern zu erheben, angemessen berücksichtigt.“[6] Dies ist aber sträflich, wahrscheinlich sehr bewusst, versäumt worden.

Fazit

 Mit dem oben genannten Befund des französischen Ökonomieprofessors Thomas Piketty wundert es nicht, dass das scharfe Schwert gegen gesellschaftliche Verwerfungen (Ungleichheiten, Umweltschutz, Bekämpfung des Klimawandels u.ä.), nämlich die Steuerpolitik, so stumpf geworden ist. Wie er feststellte, hat die Ungleichheit in Europa in den letzten 40 Jahren stark zugenommen. Dies führt zwangsläufig zu Verwerfungen in politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Sektoren. Die Gefahr eines europäischen Rechtsrucks lässt sich kaum noch leugnen. Dies ist aber nicht nur auf die mangelnde Verteilungsgerechtigkeit zurückzuführen, sondern auch auf die mangelnde Entwicklung alternativer Formen der Wirtschaftsorganisation und der extrem passiven Steuerpolitik. Dies könnte sich aber glücklicherweise bald ändern, weil das Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vom 09.11.2022 betont, dass „für die Finanzierung der Entlastungsmaßnahmen […] eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes in Betracht gezogen werden [könnte].“ Liebe Wirtschaftsweisen – geht doch.

[1] Niko Paech, Wachstum, Frankfurt am Main, 2022, S.98

[2] Vergleiche u.a. auf dieser Homepage die Artikel Die Fischerei und der Kapitalismus Teil 1, 2, 3 und 4.

[3] Thomas Piketty, Mehr Gleichheit wagen!, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10`22, Berlin, 2022, S. 45

[4] Thomas Piketty, Mehr Gleichheit wagen!, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10`22, Berlin, 2022, S. 50

[5] Sie wurde vom US-Ökonomen Arthur B. Laffer entwickelt.

[6] Thomas Piketty, Mehr Gleichheit wagen!, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10`22, Berlin, 2022, S. 55

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