Irrtum Nr. 1: BIP und Wachstum

07. Februar 2020

„Die Natur ist nachhaltig, weil sie regenerativ ist!“[1]

 Der englische Philosoph John Locke (1632–1704) vermerkte in einem Brief, dass „der Preis einer Ware durch den Anteil der Zahl der Käufer und Verkäufer steigt oder fällt.“ Dies hat Adam Smith (1723-1790) aufgegriffen und in seine ökonomische Theorie eingebaut. John Locke kannte aber auch die Bewegungsgesetze seines Zeitgenossen und Physikers Isaac Newton (1634-1727). Das 3. Bewegungsgesetz (Kraft gleich Gegenkraft) lautet in vereinfachter Form:  Eine Kraft von Körper A auf Körper B geht immer mit einer gleich großen, aber entgegen gerichteten Kraft von Körper B auf Körper A einher. Nach diesen Gesetzmäßigkeiten schien es, dass die Disziplinen Physik und Ökonomie sehr ähnlich waren. Normative Dogmen stellten sich zu dieser Zeit anders dar und der erste Werturteilsstreit wurde erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg von Max Weber und Werner Sombart ausgetragen. Heute müssen wir leider feststellen, dass volkswirtschaftliche Zusammenhänge an den Hochschulen häufig aus dem Blickwinkel der neoliberalen Ökonomie dargestellt werden und scheinbar spielen die naturwissenschaftlichen Sachverhalte keine Rolle in der Betriebswirtschafts- bzw. Volkswirtschaftslehre.  Dabei ist es gerade in der heutigen Zeit sehr wichtig, die gesamte Bandbreite ökonomischen Denkens abzubilden und auch widersprüchliche und komplementäre Aspekte zu beleuchten.

Ich möchte in diesem und in den nächsten drei Blogs darstellen, warum die Ökonomie sich aus ihrem Elfenbeinturm befreien muss und andere wissenschaftliche Disziplinen, vornehmlich die Naturwissenschaft, zu beachten sind, um Lösungsansätze für ökologische Probleme, die sich auf die Natur und auf das Klima beziehen, anbieten zu können.

Das Bruttoinlandsprodukt

Zunächst eine banale ökonomische Feststellung: Das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP, umfasst alle Güter und Dienstleistungen, die in einer Volkswirtschaft innerhalb eines Jahres erzeugt wurden. Das BIP wird sowohl in den jeweiligen Preisen (nominales BIP) als auch in Preisen des Vorjahres (preisbereinigtes BIP oder reales BIP) erfasst. Das BIP gilt als Indikator des Wohlstands einer Volkswirtschaft, obwohl es nur ein Umsatzindikator ist. Dieser Sachverhalt wird auf vielfältige Art und Weise, zu Recht, von den Ökonomen kritisiert.

Unter einem Wirtschaftswachstum  versteht man die Änderung des Bruttoinlandsprodukts von einer Periode zur nächsten. Die Stärke des Wachstums wird durch die Wachstumsrate ausgedrückt, demzufolge wird jedes Jahr die prozentuale Veränderung des Bruttoinlandsproduktes gegenüber dem Vorjahr berechnet. Fast alle traditionellen Volkswirte sind sich einig, ohne Wirtschaftswachstum ist die Ökonomie nicht lebensfähig, weil beispielsweise Arbeitsplätze gefährdet werden. Soweit die herrschende ökonomische Lehrmeinung.

Der BIP-Irrtum

Nur wenige Ökonomen thematisieren den großen Konflikt zwischen Wachstum  und Umwelt. Da in Europa das Bruttoinlandsprodukt in der Werteinheit Euro gemessen wird, scheint der Zusammenhang zu Natur und Umwelt obsolet, denn schließlich ist der Euro keine physikalische Größe. Dies ist ein ökonomischer Denkfehler – natürlich stellt der Wert eines Literpreises Benzin  von beispielsweise 1,30 € auch eine physikalische Größe dar, die eine erhebliche Auswirkung auf die Natur hat. Die im BIP enthaltenen Euro-Wertmengen werden zum Verbrauch gekauft, also repräsentiert das BIP auch eine physikalische Größe. Insofern besteht eine Korrelation  zwischen BIP und Ressourcendurchsatz. Unser Wirtschaftsminister, Peter Altmaier, ist der Auffassung, dass sich dieser Ressourcendurchsatz vom BIP entkoppeln  lässt. Das klingt sehr schön, ist aber nur sehr begrenzt möglich, da die positive Korrelation sehr hoch ist. Außerdem macht uns der Rebound-Effekt auch noch einen Strich durch die Rechnung.

Kosten, die durch Krankheit, Naturkatastrophen, Klimawandel, Verbrechen und Unfälle entstehen, erhöhen ebenfalls das BIP. Das bedeutet, das BIP korreliert diese Kosten, sie haben allerdings nichts mit Glück und Wohlergehen zu tun. Kosten erhöhen eben nicht zwangsläufig den Nutzen.

Das BIP als Klimakiller

Wie klimaschädlich ist eigentlich das deutsche Bruttoinlandsprodukt?  Jeder Euro an Wertschöpfung produziert 277 Gramm CO2. Der BDI-Präsident Kempf bezeichnete am 16. Januar 2020 das voraussichtliche Wirtschaftswachstum 2020 als saft- und kraftloses Wachstum. „Wir erwarten nur noch eine Zunahme des Bruttoinlandsprodukts von 0,5 Prozent“, sagte BDI-Präsident Dieter Kempf am Donnerstag in Berlin. Kempf verschweigt, wie fast alle Ökonomen, dass das Wachstum des BIP unmittelbar mit dem Klimawandel  zusammenhängt. Wird dieser Zusammenhang akzeptiert, so haben Ökonomen sofort eine Begründung für diesen Sachverhalt parat – Zielkonflikt! Ich mag den Ausdruck Zielkonflikt überhaupt nicht, denn er impliziert einen nicht auflösbaren Widerspruch. Dies ist aber eher ein semantisches Problem, denn sogenannte „Zielkonflikte“ lassen sich sehr häufig auflösen. Historisch ist belegt, dass Menschen sehr wohl im Stande sind, mit der Natur in Einklang zu Leben und ökonomische und ökologische Gleichgewichte herzustellen.

In der Natur finden gegenwärtig große Veränderungen statt. Treibhausemissionen, Artensterben, Ressourcenverbrauch, Landnutzung mit Verschlechterung der Böden und der Verlust der Biodiversität  sind die ständigen Begleiter unseres Wohlstandes. Diese Veränderungen werden zwar registriert, aber unsere Art zu wirtschaften, unser Wirtschaftssystem, wird grundsätzlich nicht hinterfragt. Im Gegenteil, das Wirtschaftswachstum wird vergöttert und steht nicht zur Disposition. Dabei gibt es schon vielversprechende Ansätze in vielen Bereichen. Beispielsweise lässt sich die industrielle Landwirtschaft, relativ problemlos, strukturell umstellen auf eine regenerative Landwirtschaft. Dies ist, laut einer Studie unter der Leitung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung vom 20.01.2020, kein unüberbrückbarer Zielkonflikt. Die Studie stellt klar, dass durch eine technologische und soziokulturelle Kehrtwende hin zu einer nachhaltigeren Landwirtschaft sogar 10 Milliarden Menschen auf der Erde ernährt werden können, mit dem positiven Nebeneffekt der Erhöhung der Klimaresilienz und einer Begrenzung der globalen Erwärmung.[2]

Es müssen tiefgreifende Veränderungen erfolgen, die die Dominanz der Ökonomie, die häufig nur auf kurzfristige Erfolge ausgerichtet ist, in die zweite Reihe befördern. Die 21 Prinzipien der Blue Economy nach Gunter Pauli[3] besagen unter anderem, dass die Physik die Grundlage der Systeme repräsentieren sollte. Danach sind die Disziplinen Chemie und die Biologie zu beachten.

Volle Welt und leere Welt

 Die jüngsten Veröffentlichungen des Club of Rome beschreiben die volle und die leere Welt. Vor der Industriellen Revolution war die Welt leer. Das bedeutet, geringe Bevölkerungszahlen, kaum Ressourcenverbrauch, keine klimatischen Veränderungen, man lebte von den Zinsen, die uns die Natur zur Verfügung gestellt hat, zum Beispiel von nachwachsenden Rohstoffen. Die heutige Welt ist eine volle Welt und die Wirtschaft dominiert den Planeten. Wir leben schon lange von unserem Kapital und vernichten die Ressourcen.

Der Ressourcendurchsatz wird durch das BIP gemessen und es steht für die Missachtung des Naturkapitals und der Thermodynamischen Gesetze. Nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik, dem Gesetz der Erhaltung von Masse und Energie, entzieht die Wirtschaft der Natur Stoffe und Energie und ihr Potenzial wird dadurch verringert. Die Ökonomie entnimmt der Erde Ressourcen mit geringer Entropie und führt hochentropische Abfälle zurück in die Natur. Damit beweist der Zweite Hauptsatz die qualitative Verschlechterung der Umwelt. „Der Zweite Hauptsatz stellt also einen zusätzlichen Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Erhaltung der Umwelt dar, nämlich die „Bezahlung“ der Ordnung und Struktur der Wirtschaft durch Unordnung und Zerstörung der Ökosphäre.“[4]

[1] Ernst Ulrich von Weizsäcker, Anders Wijkman, Wir sind dran, Club of Rome, Der große Bericht, München, 2019, S. 198.

[2] Diese Einschätzung wird auch von der UNO geteilt. Der im Auftrag der Vereinten Nationen und der Weltbank angefertigte Weltagrarbericht kommt zu dem Ergebnis, dass die industrielle Landwirtschaft nicht in der Lage ist, die Menschheit zu ernähren. Begründet wird diese Auffassung mit dem immensen Ressourcenverbrauch und der großen Abhängigkeit vom Öl. Der Bericht fordert die Wiederherstellung von kleinbäuerlichen Strukturen. (Vgl. www.weltagrarbericht.de von 2017)

[3] Gunter Pauli, The Blue Economy, 10 Jahre, 100 Innovationen, 100 Millionen Jobs, Bericht an den Club of Rome, Berlin, 2012. Dieser Bericht wird in China zunehmend populärer.

[4] Ernst Ulrich von Weizsäcker, Anders Wijkman, Wir sind dran, Club of Rome, Der große Bericht, München, 2019, S. 115 – 116.

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